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Buch des Monats


Hier stellen wir Ihnen "Das Buch des Monats" vor. Die Auswahl erhebt keinen Anspruch auf Allgemeingültigkeit, sie orientiert sich auch nicht an den gängigen Publikationen über die aktuelle literarische Szene, sondern spiegelt einzig und allein die subjektive Meinung und das Literaturverständnis der Redaktion wider.

Wir werden uns zwar immer alle erdenkliche Mühe bei unserer Auswahl geben. Gleichwohl können wir nicht ausschließen, daß unser ausgesuchtes Buch des Monats nicht immer ungeteilten Beifall findet. Doch dieses Risiko wollen wir in Kauf nehmen.




Das Buch des Monats Oktober 2010
Titel: Schilten
Autor(en): Hermann Burger
Verlag: Nagel & Kimche ((410 Seiten; € 24,90)
ISBN-Nr.: 3-312-00426-3

Ein unglaubliches, ein wahnwitziges, ein verschreckendes, ein grandioses Buch. In einem weltabgeschiedenen Weiler im Schweizer Kanton Aargau als Dorfschullehrer eingesetzt, alleingelassen mit der „Einheitsförderklasse“, der einzigen Klasse der Schule, in der alle Jahrgänge zugleich unterrichtet werden, gerät der vereinsamte Pädagoge mehr und mehr durch die absonderlichen Umstände der Schule und ihrer Gegebenheiten, nicht zuletzt durch ihre unmittelbare Angrenzung zum Friedhof, dem „Engelhof“, aus dem seelischen Gleichgewicht. Er verändert sich zusehends und unaufhaltsam und damit fast zwangläufig auch seine Lehrmethoden, er wird kauzig, legt sonderliches, abstruses Gebaren an den Tag, das seine Schülerschar indes zumeist als willkommene Abwechslung vom Unterrichtseinerlei wahrnimmt und quasi in verschwörerischer Manier mitträgt und unterstützt.

Ohne Gehör bei der Schulverwaltung zu finden, die seine Einödschule trotz wiederholter Einladungen nicht mit einem Besuch beehrt, schickt sich der Lehrer schließlich an, einen „Schulbericht zuhanden der Inspektorenkonferenz“ (so auch der Untertitel des Romans) zu verfassen, den er allerdings niemals absenden wird. Diesem in Briefform verfaßten Bericht vertraut er minutiös und detailversessen die Tage, Wochen, Jahre seines Lehrerdaseins an, seine Erlebnisse, die Art und Weise seiner Unterrichtungen, vor allem die Auswirkungen und Folgen der unmittelbaren Nähe des Friedhofs zur Schule. Nicht mehr das Leben lehrt er, der nach und nach den Bezug zur Realität verliert, seine Schüler, sondern das Sterben, den Tod, der allgegenwärtig die Schule, ihre Mauern, seine Insassen umgibt. Der Lehrer läuft Gefahr, an der Welt, wie er sie sieht, zu zerbrechen; wie seine Schüler, soeben erst ins Leben getreten, mit der bisweilen lustvoll exerzierten Gewöhnung an Gräber und Särge und Bestattungsrituale umgehen, bleibt unbeantwortet. Der Grat zwischen Skurrilem, Originellem und wahnhaftem Verhalten ist oft schmal, und es bedarf mitunter nur weniger Dinge, um auf der einen Seite des Grates zu bleiben oder zur anderen hinüberzuwechseln.

Wahrlich ein schwerer Stoff. Doch Burger setzt ihn in unnachahmlicher Weise in Szene, läßt den Leser hell auflachen an Stellen, an denen für gewöhnlich niemandem nach Lachen zumute ist. Nicht von ungefähr gilt Burgers Romandebüt „Schilten“ (1976) als sein wichtigstes Buch, mit dem er sich allerdings durch seine kenntnisreichen Milieuschilderungen nicht nur Freunde in der Heimat schuf.

Hermann Burger wurde nur sechsundvierzig Jahre alt; er starb am 28. Februar 1989 durch eigene Hand. Doch noch immer gibt es Stimmen, die nicht an den Suizid glauben, sondern Burger eher die versehentliche Einnahme einer zu starken Dosis Schlaftabletten unterstellen. Und das, obwohl er mit zunehmenden Jahren immer stärker unter Depressionen litt und sich bereits über das Thema Freitod öffentlich, auch literarisch, mit Anlehnungen an Carl Amery („Hand an sich legen“) ausgelassen hatte. Denn als er starb, hatte er soeben erst Teil eins des auf vier Bände angelegten Romans „Brenner“ erfolgreich auf den Markt gebracht.

Burgers Interesse galt vornehmlich den Außenseitern der Gesellschaft, als der er sich im Grunde wohl auch selbst verstand, und diesen verlieh er in seiner Prosa, seiner Lyrik nur zu häufig Gestalt und Stimme oder ließ sie eben schweigen. Er gilt nach wie vor als einer der bedeutendsten Autoren der Schweiz nach 1945.


Hinweis:
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