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Buch des Monats


Hier stellen wir Ihnen "Das Buch des Monats" vor. Die Auswahl erhebt keinen Anspruch auf Allgemeingültigkeit, sie orientiert sich auch nicht an den gängigen Publikationen über die aktuelle literarische Szene, sondern spiegelt einzig und allein die subjektive Meinung und das Literaturverständnis der Redaktion wider.

Wir werden uns zwar immer alle erdenkliche Mühe bei unserer Auswahl geben. Gleichwohl können wir nicht ausschließen, daß unser ausgesuchtes Buch des Monats nicht immer ungeteilten Beifall findet. Doch dieses Risiko wollen wir in Kauf nehmen.




Das Buch des Monats August 2011
Titel: Alles umsonst
Autor(en): Walter Kempowski
Verlag: btb Verlag (381 S. / € 9,50)
ISBN-Nr.: 3-442-73756-7

Walter Kempowski (* 29.4.1929 Rostock, + 5.10.2007 Rotenburg/Wümme) zählt zu den Autoren, die sehr spät, mitunter erst nach ihrem Tod die Anerkennung fanden, die ihnen zeitlebens ein ignoranter, zeitgeistorientierter Literaturbetrieb verweigerte. So erging es auch Kempowski. Inzwischen weiß man um seine immense Bedeutung, um die vor allem historische Tragweite seines Lebenswerkes. Er wird als großer Chronist der zweiten Hälfte des zwanzigsten Jahrhunderts in die deutsche Literaturgeschichte eingehen. Denn wie nicht allzuviele Literaten wandte er sich, nach spätem Abitur, Studium und einigen Jahren Lehrertätigkeit, sogleich der schriftstellerischen Verarbeitung und Bewältigung der düsteren Vergangenheit Deutschlands zu, die sich wie ein roter Faden durch fast sein gesamtes literarisches Schaffen ziehen. Die Geschehnisse im Osten, die anschließende Flucht und Vertreibung nehmen hierbei einen besonderen Raum ein. Schon vom Alter her konnte Kempowski nicht alles selbst mitangesehen haben, über das er später schrieb. Doch er trug mit unglaublicher Beharrlichkeit und Akribie unzählige Aufzeichnungen, Briefe, Bilder und Berichte der Menschen zusammen, die jene Vorkommnisse am eigenen Leibe erlebten.

Kempowski klagt in seinen Texten nicht an, verurteilt nicht, verteidigt nicht. Er erzählt nur. In schnörkelloser, ja, einfacher Sprache, fast ist man versucht zu sagen: umgangssprachlich. Doch das geschieht in einer Form, die auf ihre Weise den Leser einnimmt, ihn zum Weiterlesen zwingt. In „Alles umsonst“ bleibt er seiner Linie treu, schildert das Leben auf einem heruntergekommenen Gutshof in Ostpreußen, dessen Bewohner zwar die beginnenden Flüchtlingsströme auf der Straße registrieren, das Grummeln und den sich rötenden Himmel im Osten wahrnehmen, doch sich erst zur Flucht entscheiden, als es wohl bereits zu spät ist. Aus heutiger Sicht, in Kenntnis der Dinge, die dann geschahen, will man nicht glauben oder wahrhaben, daß damals Menschen nicht ahnen konnten, auch gezielt von der nationalsozialistischen Führung im Unklaren darüber gelassen wurden, wie die militärische Lage tatsächlich war, daß in weiten Teilen Ostpreußens noch ein halbwegs normales Leben ablief, mit Kaufladen, Kinobesuch, Caféhausbetrieb und Schneeschaufeln an der Straße, während die Rote Armee unaufhaltsam näherrückte und schon nach wenigen Tagen alles überrollen würde. „Flieht! Flieht!“ möchte man den Menschen beim Lesen angesichts des nahenden Unheils irgendwann zuschreien, „um Himmels willen, flieht!“

Kempowskis Bücher sind mehrheitlich zeitgeschichtliche Dokumente, davon einige auch verfilmt, die man heute all jenen zur Lektüre wärmstens empfehlen möchte, die quasi aus erster Hand erfahren wollen, was damals geschah, wie Menschen die Greuel des Krieges und seine Folgen erlebten, was sie wußten und was sie nicht wußten, nicht wissen konnten.

Walter Kempowski wurde noch 1945, wenige Wochen vor Kriegsende, als 15-jähriger Hitlerjunge zur Wehrmacht eingezogen und überlebte das Inferno. 1948 geriet er bei einem Besuch seiner in Rostock verbliebenen Mutter in die Hände des russischen NKWD, weil er angeblich mit amerikanischen Diensten zusammengearbeitet hatte. Bis heute wurde nicht zweifelsfrei geklärt, ob er tatsächlich den Amerikanern über die Verhältnisse in der sowjetischen Besatzungszone berichtete; ein justitiables Delikt nach unseren Maßstäben wäre es ohnehin nicht gewesen. Er wurde zu fünfundzwanzig Jahren Haft verurteilt, von denen er acht Jahre im berüchtigten Zuchthaus Bautzen absaß. Über diese Zeit schrieb er seinen ersten Roman, der nach längerer Verlagssuche und mehrfachen Überarbeitungen – der neugegründete, einflußreiche Schriftstellerkreis „Gruppe 47“ stand seiner autobiographisch geprägten Schilderung eher ablehnend gegenüber – 1969 unter dem Titel „Im Block“ veröffentlicht wurde.

Viele Literaturinteressierte halten Walter Kempowski für einen der wichtigsten deutschen Autoren der letzten fünf Jahrzehnte des zwanzigsten Jahrhunderts, bedeutsamer, das Nachkriegsdeutschland prägender als zum Beispiel Grass oder Walser, deren Arbeiten er selbst nicht sehr schätzte. Als Kempowski, der bis zum Schluß ein unbequemer, kritischer Geist blieb, im Herbst 2007 starb, verstummte mit ihm ein weiterer der wenigen maßgeblichen, ernstzunehmenden Zeitzeugen jener unseligen Epoche. Er war Ehrenbürger seiner Heimatstadt Rostock, wurde unter anderem ausgezeichnet mit dem Großen Bundesverdienstkreuz.






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