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Aus der Welt der Literatur



2005-03-26
Der Fangschuß /Marguerite Yourcenar (Lizenzausgabe „Süddeutsche Zeitung“, ISBN 3-937793-11-9)

Marguerite Yourcenar legte ihrem nur neunzig Seiten zählenden Roman eine wahre Begebenheit zu Grunde. In den Wirren nach dem Ende des Ersten Weltkriegs, die Oktoberrevolution wütet in Rußland und zieht die baltischen Länder hinein in den blutigen Strudel aus Bürgerkrieg und Gesetzlosigkeit, begegnen sich drei Menschen in schicksalhafter Verstrickung. Das junge, adelige Geschwisterpaar lebt auf dem zerfallenden Anwesen der Vorfahren, in das ein preußischer Offizier mit einem Trupp Weißgardisten einrückt. Das Kämpfen und Töten geht weiter, wer in Gefangenschaft gerät, ist verloren. Überläufer aus den eigenen Reihen teilen dieses Schicksal....

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Textauszug:

Sophie saß auf einem Holzstapel, die Hände zwischen den gespreizten Knien und die Hacken ihrer schweren Schuhe tief in der nassen Erde. Sie rauchte unentwegt meine Zigaretten. Es war das einzige Zeichen von Angst, das ich bemerkte. Die kalte Morgenluft gab ihren Wangen eine gesunde rosige Farbe. Ihre zerstreuten Blicke schienen mich nicht zu sehen, sonst wären mir sicher die Tränen gekommen. Sie war ihrem Bruder doch allzu ähnlich, als daß ich nicht das Gefühl gehabt hätte, ihn zweimal sterben zu sehen.
Für gewöhnlich übernahm Michel in solchen Fällen die Rolle des Henkers. Er hatte in Kratovice jedesmal, wenn es zufällig einmal ein Stück Vieh zu schlachten gab, uns diese Tätigkeit abgenommen und setzte sie nun gewissermaßen fort. Chopin hatte bestimmt, daß Sophie als letzte erschossen werden sollte. Ich weiß bis heute nicht, ob er es aus übertriebener Strenge tat, oder ob er einem von uns Gelegenheit geben wollte, sie zu retten. Michel begann mit dem Kleinrussen, den ich als ersten verhört hatte. Sophie warf einen raschen Seitenblick auf das, was zu ihrer Linken geschah; dann wandte sie sich ab wie eine Frau, die eine obszöne Szene, die sich neben ihr abspielt, zu übersehen versucht. Vier- oder fünfmal hörte man dieses Krachen eines Schusses, das Knallen der Büchse. Wie gräßlich ein solcher Lärm war, schien ich bis dahin nicht ermessen zu haben. Plötzlich machte Sophie Michel heimlich ein gebieterisches Zeichen, so wie eine Gastgeberin in Gegenwart ihrer Gäste einem Dienstboten eine letzte Anweisung gibt. Michel trat vor, beugte den Rücken mit der gleichen bestürzten Unterwürfigkeit, mit der er sie niederknallen würde, und Sophie murmelt einige Worte, die ich nur an der Bewegung ihrer Lippen erraten konnte.
„Gut, Fräulein!“
Der alte Gärtner näherte sich mir und sagte mir in dem schroff-bittenden Ton eines alten verängstigten Dieners, der keinesfalls verkennt, daß man als Überbringer einer solchen Botschaft mit der Kündigung rechnen muß.
„Sie befiehlt...Das Fräulein bittet...Sie möchte, daß Sie es sind...“
Er hielt mir einen Revolver hin, ich nahm den meinen und ging automatisch einen Schritt vor.




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