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Aus der Welt der Literatur



2005-08-14
Unterm Rad (Hermann Hesse; Verlag Süddeutsche Zeitung; ISBN 3-937793-17-8)

Der Verlust der Kindheit, der rätselvolle, oft auch verstörende Übergang in die Zwischenwelt der Heranwachsenden hat nahezu alle großen Schriftsteller beschäftigt. Es erstanden mehr oder weniger autobiographisch geprägte Romane, so auch „Unterm Rad“, den Hesse als eines seiner frühen Werke 1906 veröffentlichte.

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Textauszug:

Er schlich sich hinter das Haus und konnte nun vom Gartenzaun aus in die erleuchtete Wohnstube hineinsehen. Den Meister sah er nicht. Die Frau schien etwas zu nähen oder zu stricken, der älteste Knabe war noch auf und saß lesend am Tisch. Die Emma ging hin und her, offenbar mit Aufräumen beschäftigt, so daß er sie immer nur für Augenblicke zu sehen bekam. Es war so still, daß man jeden fernsten Schritt in der Gasse und jenseits des Gartens das leise Strömen des Flusses deutlich hören konnte. Die Dunkelheit und Nachtkühle nahmen eilig zu.
Neben den Wohnzimmerfenstern lag ein kleineres Flurfenster dunkel. Nach einer langen Weile erschien an diesem Fensterchen eine undeutliche Gestalt, lehnte sich heraus und blickte in die Dunkelheit. Hans erkannte an der Figur, daß es Emma war und vor banger Erwartung stand ihm das Herz still. Sie blieb im Fenster stehen, lang und ruhig herüberblickend, doch wußte er nicht, ob sie ihn sehe oder erkenne. Er regte kein Glied und schaute starr zu ihr hinüber, mit ungewissem Zagen, zugleich hoffend und fürchtend, sie möchte ihn erkennen.
Und die undeutliche Gestalt verschwand wieder aus dem Fenster, gleich darauf klinkte die kleine Gartentüre, und Emma kam aus dem Hause. Hans wollte im ersten Schrecken auf und davon, blieb aber willenlos am Zaun lehnen und sah das Mädchen langsam ihm entgegen durch den dunklen Garten schreiten und bei jedem ihrer Schritte trieb es ihn davonzulaufen und hielt etwas Stärkeres ihn zurück.
Nun stand Emma gerade vor ihm, keinen halben Schritt entfernt, nur der niedrige Zaun dazwischen und sie sah ihn aufmerksam und sonderbar an. Eine ganze Zeitlang sagte keines ein Wort. Dann fragte sie leise: „Was willst du?“
„Nichts“, sagte er, und es fuhr ihm wie ein Streicheln über die Haut, daß sie ihm du gesagt hatte.
Sie streckte ihm ihre Hand über den Zaun weg hin. Er nahm sie schüchtern und zärtlich und drückte sie ein wenig, da merkte er, daß sie nicht zurückgezogen wurde, faßte Mut und streichelte die warme Mädchenhand fein und vorsichtig. Und als sie ihm noch immer willig überlassen blieb, legte er sie an seine Wange. Eine Flut von durchdringender Lust, von seltsamer Wärme und seliger Müdigkeit überlief sein Wesen, die Luft um ihn her schien ihm lau und föhnfeucht, er sah nicht Gasse noch Garten mehr, nur ein nahes helles Gesicht und ein Gewirre dunkler Haare.
Und es schien ihm aus einer großen Nachtferne her zu tönen, als das Mädchen ganz leise fragte: „Willst du mir einen Kuß geben?“
Das helle Gesicht kam näher, die Last eines Körpers bog die Latten ein wenig nach außen, lose, leicht duftende Haare streiften Hans die Stirn, und geschlossene Augen, von weißen, breiten Lidern und dunkeln Wimpern zugedeckt, standen dicht vor den seinen.



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