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Aus der Welt der Literatur



2005-11-28
Waldesrauschen (Rainer Maria Rilke)

Wer je als Kind in einen Wald eintauchte, in seine Laute, sein sonderbares Licht, in seine Geheimnisse, die er nur den Stillen, den Scheuen offenbart, wer je dem Wind in seinen Gipfeln lauschte, dem wird Rilkes Gedicht ein wehes Erinnern bescheren.

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I

Wer das Lied versteht,
das der Wald sich ruft,
das so müd verweht
in der Abendluft.

Wie ein Sehnen klingt
es von Ast zu Ast,
ja zu Tränen zwingt
mich das Rauschen fast.

Dennoch weil´ ich gern,
wo das Raunen schallt,
immer eil ich fern
in den Fichtenwald.

Hin noch zieht es spät
mich; mein Herze lauscht,
ob´s das Lied versteht,
das der Wald sich rauscht.


II

Ein Raunen zieht, ein Rauschen
durchs grüne Waldeshaus,
weltweite Wipfel tauschen
viel traute Grüße aus.

Sie fügen sich und schmiegen
sich ineinander auch,
sie biegen und sie wiegen
sich hoch im Himmelshauch.

Das schwirrt bald schmeichelnd leise,
voll Wehmut klagend bald,
bald macht die Wunderweise
erdröhnend rings den Wald.

Ich will ihr stille lauschen,
die Blicke – wipfelwärts..
Mich deucht, dasselbe Rauschen
tönt lang schon durch mein Herz.


III

Heiliger Hochwald, deine Stille,
die kein Mißton unterbricht,
gleicht dem Schweigen der Sibylle,
eh sie Weisheitsworte spricht.

Dich umfängt der Hauch der Düfte
wie den Sinn der Seherin.
Hoch nur durch die leichten Lüfte
schwebt ein leises Ahnen hin.


IV

Was sind Lieder, die die Saiten
meiner Leier froh beseelen,
gegen das, was deine weiten
Wipfel, Hochwald, sich erzählen?

Was sind Lieder, aus den Launen
müder Sinne, duftbetäubter,
stammend, gegen jenes Raunen
deiner ewig grünen Häupter.

Meine Lieder, die wohl allen
künden sollten, was die Zweige
rauschen, meine Lieder schallen
kaum als Echo, und ich schweige.

Schweige, so ich dich betrete,
Hochwald, wenn Du auf und nieder
wogest. Träume oder bete.
Was sind Worte, was sind Lieder?



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