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Aus der Welt der Literatur



2006-01-25
Lieben (Rainer Maria Rilke)

Rilke liebte die sanfte, romantische Lyrik, seine Sprachmelodie ist unverwechselbar. Die Verse „Lieben“ zählen zu seinem frühen Werk, ihr Zauber ist ungebrochen.

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Lieben


I

Und wie mag die Liebe dir kommen sein?
Kam sie wie ein Sonnen, ein Blütenschnein,
kam sie wie ein Beten? – Erzähle:

Ein Glück löste leuchtend aus Himmeln sich los
und hing mit gefalteten Schwingen groß
an meiner blühenden Seele.


II

Das war der Tag der weißen Chrysanthemen,
mir bangte fast vor seiner schweren Pracht.
Und dann, dann kamst du mir die Seele nehmen
tief in der Nacht.

Mir war so bang, und du kamst lieb und leise,
ich hatte grad im Traum an dich gedacht.
Du kamst und leis wie eine Märchenweise
erklang die Nacht.


III

Einen Maitag mit dir beisammen sein,
und selbander verloren ziehn
durch der Blüten duftqualmende Flammenreihn
zu der Laube von weißem Jasmin.
Und von dorten hinaus in den Maiblust schaun,
jeder Wunsch in der Seele so still.
Und ein Glück sich mitten in Mailust baun,
ein großes, - das ists, was ich will.


IV

Ich weiß nicht, wie mir geschieht,
weiß nicht, was Wonne ich lausche,
mein Herz ist fort wie im Rausche,
und die Sehnsucht ist wie ein Lied.

Und mein Mädel hat fröhliches Blut
und hat das Haar voller Sonne
und die Augen von der Madonne,
die heute noch Wunder tut.


V

Ob du´s noch denkst, daß ich dir Äpfel brachte
und dir das Goldhaar glatt strich leis und lind?
Weißt du, das war, als ich noch gerne lachte,
und du warst damals noch ein Kind.

Dann ward ich ernst. In meinem Herzen brannte
ein junges Hoffen und ein alter Gram.
Zur Zeit, als einmal dir die Gouvernante
den „Werther“ aus den Händen nahm.

Der Frühling rief. Ich küßte dir die Wangen,
dein Auge sah mich groß und selig an.





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