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Aus der Welt der Literatur



2007-03-02
Amnesie in litteris (aus „Drei Geschichten“ / Patrick Süskind / Diogenes Verlag / ISBN 3-257-23468-6

Süskind kann, man glaubt es kaum, wenn man die Erfahrung mit ihm allein auf seinen Dämonenroman „Das Parfum“ beschränkt, durchaus humorvoll, ja, nachgerade lustig sein. Man traut seinen Augen nicht, liest man zum Beispiel seine Erzählung „Amnesie in litteris“. Erkennen wir uns nicht , ziehen wir seine gewollten Übertreibungen ab, zumindest in Ansätzen darin wieder?

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Textauszug:

Da faßt mich ein namenloser Jammer an. Die alte Krankheit hat mich wieder: Amnesie in litteris, der vollständige literarische Gedächtnisschwund. Und eine Welle der Resignation über die Vergeblichkeit allen Strebens nach Erkenntnis, allen Strebens schlechthin überschwemmt mich. Wozu denn lesen, wozu denn etwa dieses Buch noch einmal lesen, wenn ich doch weiß, daß nach kürzester Zeit nicht einmal mehr der Schatten einer Erinnerung davon zurückbleibt? Wozu denn überhaupt noch etwas tun, wenn alles zu nichts zerfällt? Wozu denn leben, wenn man ohnehin stirbt? Und ich klappe das schöne Büchlein zu, stehe auf und schleiche wie ein Geschlagener, wie ein Geprügelter zum Regal zurück und versenke es in der Reihe der anonym und massenhaft und vergessen dastehenden anderen Bände.

Am Ende des Bordes bleibt der Blick hängen. Was steht da? Achja: drei Biographien über Alexander den Großen. Die habe ich einst alle gelesen. Was weiß ich über Alexander den Großen? Nichts. Am Ende des nächsten Bordes stehen mehrere Konvolute über den Dreißigjährigen Krieg, darunter fünfhundert Seiten Veronica Wedgwood und tausend Seiten Wallenstein von Golo Mann. Das habe ich alles brav gelesen. Was weiß ich über den Dreißigjährigen Krieg? Nichts. Die Regalreihe darunter ist von vorn bis hinten vollgestopft mit Büchern über Ludwig II. von Bayern und seine Zeit. Die habe ich nicht nur gelesen, die habe ich durchgeackert, über ein Jahr lang, und anschließend drei Drehbücher darüber geschrieben, ich war beinahe eine Art Ludwig-II.-Experte. Was weiß ich jetzt noch über Ludwig II. und seine Zeit? Nichts. Absolut nichts. Nun gut, denke ich mir, bei Ludwig II. läßt sich diese Totalamnesie vielleicht noch verschmerzen. Aber wie verhält es sich mit den Büchern, die dort drüben stehen, neben dem Schreibtisch, in der feineren, der literarischen Abteilung? Was ist mir im Gedächtnis geblieben von der fünfzehnbändigen Andersch-Kassette? Nichts. Was von den Bölls, Walsers und Koeppens? Nichts. Von den zehn Bänden Hanke? Weniger als nichts. Was weiß ich noch von Tristram Shandy, was von Rousseaus Bekenntnissen, von Seumes Spaziergang? Nichts, nichts, nichts. – Aber da! Shakespeares Komödien! Letztes Jahr erst sämtlichst gelesen. Da muß doch etwas hängengeblieben sein, eine undeutliche Ahnung, ein Titel, ein einziger Titel einer einzigen Komödie von Shakespeare! Nichts. – Aber um Himmels willen, Goethe wenigsten, Goethe, da, hier zum Beispiel, das weiße Bändchen: „Die Wahlverwandtschaften“, das habe ich mindestens dreimal gelesen – und keinen Schimmer mehr davon. Alles wie weggeblasen. Ja gibt es denn kein Buch mehr auf der Welt, an das ich mich erinnere? Die beiden roten Bände dort, die dicken mit den roten Stoffähnchen, die muß ich doch noch kennen, die kommen mir vertraut vor wie alte Möbel, die habe ich gelesen, gelebt habe ich in diesen Bänden, wochenlang, vor gar nicht allzu langer Zeit, was ist denn das, wie heißt denn das? „Die Dämonen“. Soso. Aha. Interessant. – Und der Autor? F. M. Dostojewskij. Hm. Tja. Mir scheint, ich erinnere mich vage: Das Ganze spielt, glaube ich, im 19. Jahrhundert, und im zweiten Band erschießt sich jemand mit einer Pistole. Mehr wüßte ich darüber nicht zu sagen.

Ich sinke auf meinen Schreibtischstuhl nieder. Es ist eine Schande, es ist ein Skandal. Seit dreißig Jahren kann ich lesen, habe, wenn nicht viel, so doch einiges gelesen, und alles, was mir davon bleibt, ist die sehr ungefähre Erinnerung, daß im zweiten Band eines tausend Seiten starken Romans sich irgend jemand mit einer Pistole erschießt.



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