Die faszinierende Welt des Wortes
Aus der Welt der Literatur
Top-Ten der Belletristik
Buch des Monats
Kontakt
Links
Kritikus
In eigener Sache
Login



Aus der Welt der Literatur



2003-06-14
Der weiße Reiher (Sarah Orne Jewett; Manesse Verlag, Zürich)

Textauszug:

Und dann sah sie den riesigen Baum, der noch im bleichen Mondschein schlief, und mit all ihrer Tapferkeit schickte sich Sylvia an, die Riesenleiter zu erklimmen, die fast bis zum Himmel reichte. Zuerst mußte sie in die weiße Eiche steigen, die dicht daneben wuchs, und dort verlor sie sich fast in den dunklen Zweigen und den grünen Blättern, die feucht und schwer vom Tau waren. Ein Vogel verließ flatternd sein Nest, und ein rotes Eichhörnchen lief hin und her und schimpfte verdrießlich auf den harmlosen Einbrecher. Sylvia tastete sich mühelos voran. Sie hatte die Eiche oft erstiegen und wußte, daß noch weiter oben einer der Wipfelzweige sich am Stamm der Kiefer rieb, gerade an der Stelle, wo die untersten Kiefernzweige begannen. Wenn ihr dann der gefährliche Übergang von einem Baum zum andern gelang, fing das kühne Vorhaben eigentlich erst an.
Endlich kroch sie auf den schwankenden Eichenzweig hinaus und wagte den Schritt in die alte Kiefer hinüber. Es war schwieriger, als sie geglaubt hatte: sie mußte weit ausgreifen und sich festhalten, und die scharfen, trockenen Zweige griffen nach ihr und hielten sie und zerkratzten sie wie mit zornigen Krallen, und vom Harz wurden ihre dünnen kleinen Finger klebrig und ungeschickt, während sie rund um den dicken Stamm immer höher und höhrer kletterte. Die Sperlinge und Rotkehlchen im Wald tief untern erwachten allmählich und zwitscherten durch die Morgendämmerung, doch in der luftigen Höhe des Wipfels war es schon viel heller, und die Kleine begriff, wie sehr sie sich beeilen müßte, wenn ihr Plan von Nutzen sein sollte.
Je höher sie kletterte, desto mehr schien sich der Baum zu recken und zu strecken und himmelwärts zu ragen. Er war wie ein mächtiger Mastbaum der wandernden Erde, und sicher hat er sich an jenem frühen Morgen in seiner ganzen, gewaltigen Länge verwundert, als er spürte, wie das entschlossene Menschengeistchen von Ast zu Ast höher klomm. Wer weiß, ob nicht die dünneren Zweige sich strafften, um dem leichten, schwachen Geschöpf beim Aufstieg behilflich zu sein? Die alte Kiefer muß ihren neuen Gast geliebt haben - und wieviel mehr als all die Habichte und Fledermäuse und Schmetterlinge und sogar als die Drosseln mit ihrem wohllautenden Gesang galt ihr doch das tapfere, pochende Herz des einsamen, grauäugigen Kindes! Als sich im Osten der lichte Junimorgen ankündigte, stand der Baum ganz still, um die Winde abzuwehren.
Sylvias Gesicht glich einem blassen Stern, hätte man es von unten gesehen, als sie endlich den letzten stacheligen Zweig überwunden hatte und zitternd und müde, aber triumphierend hoch oben im Wipfel stand. Ja, dort hinten war das Meer, über dem eine zarte Wolkenbank golden flirrte, und mit langsamen Schwingen flogen zwei Habichte in den herrlichen Morgenhimmel hinein. Wie klein sie von dieser Höhe aus erschienen, wenn man sie sonst nur groß und dunkel vor dem blauen Himmel gesehen hatte! Ihre grauen Federn waren weich wie Schmetterlingsflügel; greibar nah schienen sie ihr, und Sylia war es, als könnte auch sie in die goldenen Lüfte hineinfliegen. Im Westen erstreckten sie Farmen meilenweit bis in die fernste Ferne. Hier und da sah sie Kirchtürme und weiße Dörfchen - war für eine schaurig weite Welt!
Die Vögel sangen immer lauter. Endlich ging in verwirrendem Glanz die Sonne auf. Sylvia konnte draußen auf dem Meer die weißen Segel der Schiffe sehen, und langsam verblaßten die kleinen Wolken, die zuerst rosig und lila und gelb gewesen waren. Ab wo war in diesem Meer grüner Zweige das Nest des weißen Reihers, und war dieser wunderbare Anblick, war dies Gepränge der morgendlichen Welt der einzige Lohn dafür, eine so schwindelnde Höhe erklommen zu haben? Blick jetzt wieder hinunter, Sylvia, wo zwischen schimmernden Birken und düsteren Hemlock-Tannen die grüne Marsch liegt: denn dort, wo du den weißen Reiher schon einmal sahst, wirst du ihn wieder sehen! Sieh doch, sieh! Ein weißer Punkt, einer einzelnen, schwebenden Feder gleich, steigt aus einer abgestorbenen Tanne auf und wird grö0er und steigt empor und kommt endlich nahe und fliegt mit gleichmäßigem Flügelschlag und dem ausgestreckten schlanken Hals und beschopften Kopf an der Richtkiefer vorbei. Aber halt! Halt! Rühre keinen Fuß oder Finger, kleines Mädchen, laß keinen unvorsichtigen Strahl deutlichen Erkennens in deinen beiden eifrigen Augen aufblitzen, denn der Reiher ist jetzt aufgebäumt, gar nicht weit von dir auf einem Kiefernzweig, und ruft seiner Gefährtin auf dem Nest unten etwas zu und glättet seine Federn für den neuen Tag.



<- zurück
Impressum