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Aus der Welt der Literatur



2009-05-21
Radetzkymarsch (Joseph Roth / Deutscher Taschenbuch Verlag / ISBN 978-3-423-12477-5 )

Joseph Roth zählt zweifellos zu den hervorragendsten Romanschriftstellern des zwanzigsten Jahrhunderts.
„Radetzkymarsch“, sein wohl bekanntestes Werk, belegt seine Erzählkunst in ganz besonderem Maße. Reich-Ranicki nahm den Roman in seinen Kanon der besten 20 deutschsprachigen Romane auf.
Roth schildert darin in faszinierender und zugleich beklemmender Weise die Zufälligkeit, die Vergänglichkeit und letzten Endes auch Nichtigkeit menschlicher Existenz am Beispiel vom Werden und Vergehen einer Familie über drei Generationen hinweg in der Zeit der österreichisch-ungarischen Monarchie.
Der Ausbruch des Ersten Weltkriegs setzt den Schlußpunkt in der erfundenen, gleichwohl beispielhaften Biographie derer von Trottas, die gewiß von da an unaufhaltsam mehr und mehr in die Bedeutungslosigkeit und ins Vergessen abzugleiten beginnen. Selbst bekanntere Namen und ihre Geschichten sind vor diesem ausdauernden, zerstörerischen Werk der Vergangenheit nicht für alle Zeit geschützt.

Joseph Roth (1894 – 1939) wurde als Sohn jüdischer Eltern im galizischen Brody (heute Ukraine) geboren, studierte Germanistik und Philosophie in Lemberg und Wien. Während des Ersten Weltkriegs meldete er sich freiwillig zu den Waffen, geriet am Ende in russische Gefangenschaft. Nach dem Krieg arbeitete er als Journalist bei unterschiedlichen Blättern, so auch für den „Vorwärts“, dem Organ der Sozialdemokratischen Partei, für die „Frankfurter Zeitung“, die „Münchener Neueste Nachrichten“ oder auch das „Prager Tageblatt“. In den zwanziger Jahren begann er mit dem literarischen Schreiben, veröffentlichte schließlich 1932 sein populärstes Werk „Radetzkymarsch“. 1933 floh er vor den Nationalsozialisten nach Paris, legte Zwischenstationen in Holland, Belgien, in Polen und Österreich ein. 1939, noch vor Hitlers Einmarsch in Polen, starb er in Paris, mittellos, von jahrelangem Alkoholkonsum gezeichnet.


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Textauszug aus dem Epilog:


Draußen unter dem niederen Gesinde wartete Herr von Trotta, der Sohn des Helden von Solferino, den Hut in der Hand, im ständig niederrieselnden Landregen. Die Bäume im Schönbrunner Park rauschten und raschelten, der Regen peitschte sie, sacht, geduldig, ausgiebig. Der Abend kam. Neugierige kamen. Der Park füllte sich. Der Regen hörte nicht auf. Die Wartenden lösten sich ab, sie gingen, sie kamen. Herr von Trotta blieb. Die Nacht brach ein, die Stufen waren leer, die Leute gingen schlafen. Herr von Trotta drückte sich gegen das Tor. Er hörte Wagen vorfahren, manchmal klinkte jemand über seinem Kopf ein Fenster auf. Stimmen riefen. man öffnete das Tor, man schloß es wieder. Man sah ihn nicht. Der Regen rieselte, unermüdlich, sacht, die Bäume raschelten und rauschten.

Endlich begannen die Glocken zu dröhnen. Der Bezirkshauptmann entfernte sich. Er ging die flachen Stufen hinunter, die Allee entlang bis vor das eiserne Gitter. Es war offen in dieser Nacht. Er ging den ganzen langen Weg zur Stadt, barhäuptig, den Hut in der Hand, er begegnete niemandem. Er ging sehr langsam, wie hinter einem Leichenwagen. Als der Morgen graute, erreichte er das Hotel. Er fuhr nach Hause. Es regnete auch in der Bezirksstadt W.
Herr von Trotta ließ Fräulein Hirschwitz kommen und sagte: „Ich geh´ zu Bett, Gnädigste! Ich bin müde!“ Und er legte sich, zum erstenmal in seinem Leben, bei Tag ins Bett.

Er konnte nicht einschlafen. Er ließ den Doktor Skowronnek kommen. „Lieber Doktor Skowronnek“, sagte er, „würden Sie mir den Kanarienvogel holen lassen?“ Man brachte den Kanarienvogel aus dem Häuschen des alten Jacques. „Geben Sie ihm ein Stück Zucker!“ sagte der Bezirkshauptmann. Und der Kanarienvogel bekam ein Stück Zucker.
„Dieses liebe Vieh!“ sagte der Bezirkshauptmann.
Skowronnek wiederholte: „Ein liebes Vieh!“
„Es überlebt uns alle!“ sagte Trotta. „Gott sei Dank!“
Dann sagte der Bezirkshauptmann: „Bestellen Sie den Geistlichen! Kommen Sie aber wieder!“

Doktor Skowronnek wartete den Geistlichen ab. Dann kam er wieder. Der alte Herr von Trotta lag still in den Kissen. Er hielt die Augen halbgeschlossen. Er sagte: „Ihre Hand, lieber Freund! Wollen Sie mir das Bild bringen?“
Doktor Skowronnek suchte das Herrenzimmer auf, stieg auf einen Stuhl und holte das Bildnis des Helden von Solferino vom Haken. Als er zurückkam, das Bild in beiden Händen, war Herr von Trotta nicht mehr imstande, es zu sehen. Der Regen trommelte sacht an die Scheibe.
Doktor Skowronnek wartete, das Porträt des Helden von Solferino auf den Knien. Nach einigen Minuten erhob er sich, nahm die Hand Herrn von Trottas, beugte sich gegen die Brust des Bezirkshauptmanns, atmete tief und schloß die Augen des Toten.

Es war der Tag, an dem man den Kaiser in die Kapuzinergruft versenkte. Drei Tage später ließ man die Leiche Herrn von Trottas ins Grab hinunter. Der Bürgermeister der Stadt W. hielt eine Rede. Auch seine Grabrede begann, wie alle Reden jener Zeit überhaupt, mit dem Krieg. Weiter sagte der Bürgermeister, daß der Bezirkshauptmann seinen einzigen Sohn dem Kaiser gegeben und trotzdem weiter gelebt und gedient hatte. Indessen rann der unermüdliche Regen über alle entblößten Häupter der um das Grab Versammelten, und es rauschte und raschelte ringsum von den nassen Sträuchern, Kränzen und Blumen. Doktor Skowronnek, in der ihm ungewohnten Uniform eines Landsturmoberarztes, bemühte sich, eine sehr militärische Habt-acht-Stellung einzunehmen, obwohl er sie keineswegs für einen maßgeblichen Ausdruck der Pietät hielt. – Zivilist, der er war. Der Tod ist schließlich kein Generalstabsarzt! dachte der Doktor Skowronnek. Dann trat er als einer der ersten an das Grab. Er verschmähte den Spaten, den ihm ein Totengräber hinhielt, sondern er bückte sich und brach eine Scholle aus der nassen Erde und zerkrümelte sie in der Linken und warf mit der Rechten die einzelnen Krumen auf den Sarg. Dann trat er zurück. Es fiel ihm ein, daß jetzt Nachmittag war, die Stunde des Schachspiels nahte heran. Nun hatte er keinen Partner mehr; er beschloß dennoch, ins Kaffeehaus zu gehn.
Als sie den Friedhof verließen, lud ihn der Bürgermeister in den Wagen. Doktor Skowronnek stieg ein. „Ich hätte noch gern erwähnt“, sagte der Bürgermeister, „daß Herr von Trotta den Kaiser nicht überleben konnte. Glauben Sie nicht, Herr Doktor?“ „Ich weiß nicht“, erwiderte der Doktor Skowronnek, „ich glaube, sie konnten beide Österreich nicht überleben.“

Vor dem Kaffeehaus ließ Doktor Skowronnek den Wagen halten. Er ging, wie jeden Tag, an den gewohnten Tisch. Das Schachbrett stand da, als ob der Bezirkshauptmann nicht gestorben wäre. Der Kellner kam, um es wegzuräumen, aber Skowronnek sagte: „Lassen Sie nur!“ Und er spielte mit sich selbst eine Partie, schmunzelnd, von Zeit zu Zeit auf den leeren Sessel gegenüber blickend und in den Ohren das sanfte Geräusch des herbstlichen Regens, der noch immer unermüdlich gegen die Scheiben rann.




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