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Aus der Welt der Literatur



2009-10-27
Der Fänger im Roggen (Jerome David Salinger / Rowohlt Taschenbuch Verlag / ISBN 3-499-23539-9)

„Der Fänger im Roggen“ ist weiter nichts als ein Adoleszenzbuch, wie es von jeder Schriftstellergeneration in die Welt gesetzt wird und wie es sie hundertfach, nein, schon tausendfach gibt. Doch es ist eines jener Bücher, die in ihrem Genre zeitlos sind, die zeitlos bleiben, die Kultstatus erringen, die einzigartig sind und bleiben. Die man noch lesen wird, wenn von den meisten anderen Autoren, die sich an diesem Stoff versuchten, niemand mehr Notiz nimmt. Salingers Klassiker wird auf eine Weltauflage von inzwischen 25 Millionen geschätzt; und jedes Jahr sollen immer noch 250.000 weitere Exemplare über die Verkaufstische gehen.
Der Inhalt ist so einfach wie alle diese Geschichten über den Weltschmerz von Heranwachsenden, das Hadern mit den Umständen des Erwachsenwerdens, die Suche nach dem Sinn und die wachsenden Zweifel daran, daß sich am Ende doch noch alles fügen könnte in ein Leben, das zu leben sich lohnt. Es ist allein Salingers Sprache, die das Buch so unvergleichlich macht. Seine Sprache, in der er den jugendlichen Protagonisten sprechen läßt, denken läßt, handeln läßt. Einfach, fast stupide oft kommen die Sätze daher, ohne auch nur den geringsten Versuch, sattsam bekannte rhetorische Muster zu bedienen. Dem Rowohlt-Verlag kommt das Verdienst zu, die Geschichte um Holden Caulfield, der letzten Endes wohl von seiner kleinen Schwester Phoebe vor dem endgültigen Scheitern bewahrt wird, im April 2009 neuaufgelegt zu haben.

„Der Fänger im Roggen“ ist Salingers einziger Roman, und er wird es wohl auch bleiben. Um den inzwischen Neunzigjährigen (geboren in New York am 1 Januar 1919 als Sohn eines jüdischen Kaufmanns und dessen Frau schottisch-irischer Abstammung) und seine vergangenen und jetzigen Lebensumstände ranken sich die wildesten Gerüchte; er lebt inzwischen völlig zurückgezogen und abgeschottet, verkörpert für viele den zur Zeit bekanntesten lebenden literarischen Eremiten. Als Soldat kämpfte er im Zweiten Weltkrieg, nahm an verlustreichen Gefechten auf deutschem Boden teil, die ihn zeitlebens prägen sollten. Seinen Abschied von der Welt nahm er bereits vor mehr als vierzig Jahren, verbunkert sich seitdem in einem festungsartigen Refugium in New Hampshire, droht mit Anwälten und angeblich auch mal mit der Flinte, wenn er sich in seiner selbstgewählten Isolation gestört fühlt.


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Textauszug:

Die gute Phoebe redete noch immer nicht mit mir oder was, aber nun ging sie irgendwie neben mir. Ich griff nach dem Gürtel hinten an ihrem Mantel, einfach so aus Jux, aber sie wollte es nicht. Sie sagte: „Laß deine Hände bei dir, wenn´s recht ist.“ Sie war noch immer sauer auf mich. Aber nicht mehr so sauer wie vorher. Jedenfalls kamen wir dem Karussell immer näher, und man hörte auch schon die bekloppte Musik, die da ständig gespielt wird. Es war „Oh, Marie!“ Es war das gleiche Lied, das sie auch schon ungefähr fünfzig Jahre davor gespielt hatten, als ich ein kleiner Junge war. Das ist das Nette an Karussells, sie spielen immer die gleichen Lieder.

„Ich dachte, das Karussell ist im Winter geschlossen“, sagte die gute Phoebe. Es war praktisch das erste Mal, daß sie was sagte. Wahrscheinlich hatte sie vergessen, daß sie ja eigentlich sauer auf mich war.
„Vielleicht, weil bald Weihnachten ist“, sagte ich.
Darauf antwortete sie wieder nichts. Wahrscheinlich war ihr eingefallen, daß sie ja eigentlich sauer auf mich war.
„Willst du damit fahren?“ sagte ich. Ich wußte, daß sie das wahrscheinlich gern wollte. Als sie ein ganz kleines Kind war und Allie und D. B. und ich immer mit ihr in den Park gingen, war sie verrückt nach dem Karussell. Da konnte man sie von dem verfluchten Ding nicht wegkriegen.
„Dafür bin ich zu groß“, sagte sie. Ich dachte, sie würde mir darauf nicht antworten, aber sie tat es doch.
„Nein, überhaupt nicht. Los, geh. Ich wart auf dich. Los“, sagte ich. Dann standen wir davor. Ein paar Kinder fuhren, meistens sehr kleine, und ein paar Eltern standen wartend rum, saßen auf Bänken und so. Ich ging dann zu dem Fenster, wo sie die Karten verkauften, und kaufte der guten Phoebe eine. Dann gab ich sie ihr. Sie stand direkt neben mir. „Da“, sagte ich. „Moment – nimm auch noch den Rest von deiner Kohle.“ Ich wollte ihr den Rest der Kohle geben, die sie mir geliehen hatte.
„Behalt das. Heb´s für mich auf“, sagte sie. Dann sagte sie direkt hinterher – „Bitte.“
Es ist deprimierend, wenn jemand „bitte“ zu einem sagt. Also, wenn es Phoebe oder so jemand ist. Das deprimierte mich ungeheuer. Aber ich steckte die Kohle wieder ein.
„Fährst du denn nicht auch?“ fragte sie mich. Sie sah mich irgendwie komisch an. Man sah gleich, daß sie nicht mehr sehr sauer auf mich war.
„Vielleicht beim nächsten Mal. Ich seh dir zu“, sagte ich.
„Hast du deine Karte?“
„Ja.“
„Dann mal los – Ich setz mich da auf die Bank. Ich seh dir zu.“ Ich ging zu der Bank und setzte mich, und sie ging rauf zum Karussell. Sie lief ganz herum. Also, sie ging einmal um das ganze Karussell herum. Dann setzte sie sich auf ein großes, braunes, ziemlich ramponiertes altes Pferd. Dann ging das Karussell los, und ich sah ihr zu, wie sie im Kreis fuhr. Es fuhren nur noch ungefähr fünf, sechs andere Kinder mit, und das Karussell spielte das Lied „Smoke Gets in Your Eyes“. Es spielte es sehr jazzig und komisch. Alle Kinder versuchten, nach dem goldenen Ring zu greifen, auch die gute Phoebe, und ich hatte irgendwie Angst, daß sie von dem verfluchten Pferd fiel, aber ich sagte nichts und tat auch nichts. Wenn Kinder nach dem goldenen Ring greifen wollen, muß man sie auch lassen und darf nichts sagen. Wenn sie runterfallen, fallen sie eben runter, aber es ist schlecht, wenn man ihnen was sagt.

Als das Karussell anhielt, stieg sie von ihrem Pferd und kam zu mir. „Jetzt fährst du aber auch mal“, sagte sie.
„Nein, ich seh dir einfach zu. Ich glaub, ich seh dir bloß zu“, sagte ich. Ich gab ihr noch was von ihrer Kohle. „Da. Hol noch ein paar Karten.“
Sie nahm die Kohle. „Ich bin nicht mehr wütend auf dich“, sagte sie.
„Ich weiß. Beeil dich – gleich geht´s wieder los.“
Dann gab sie mir auf einmal einen Kuß. Dann hielt sie die Hand auf und sagte: „Es regnet. Es fängt an zu regnen.“
„Ja.“
Und dann – es machte mich fast fertig -, und dann langte sie in meine Manteltasche, zog meine rote Jägermütze raus und setzte sie mir auf den Kopf. „Willst du sie denn nicht?“ sagte ich.
„Du kannst sie eine Weile aufhaben.“
„Gut. Aber beeil dich jetzt. Sonst verpaßt du die Fahrt. Dann kriegst du dein Pferd nicht.“
Aber sie blieb stehen.
„Hast du das ernst gemeint, was du gesagt hast? Gehst du wirklich nicht weg? Gehst du hinterher wirklich nach Hause?“ fragte sie.
„Ja“, sagte ich. Und das war auch mein Ernst. Ich belog sie nicht. Ich ging wirklich hinterher nach Hause. „Beeil dich“, sagte ich. „Das Ding fährt gleich los.“
Sie rannte los, kaufte ihre Karte und kam gerade noch rechtzeitig auf das Karussell. Dann lief sie ganz rum, bis sie ihr Pferd wiederhatte. Sie winkte mir zu, und ich winkte zurück.

Mann, es regnete nun wie blöd. Wie aus Kübeln, das schwöre ich bei Gott. Alle Eltern und Mütter und alle liefen zum Karussell und stellten sich unters Dach, damit sie nicht bis auf die Haut naß wurden oder was, aber ich blieb noch eine ganze Weile auf der Bank sitzen. Ich wurde richtig quietschnaß, besonders der Kragen und die Hose. Meine Jägermütze gab mir irgendwie eine ganze Menge Schutz, aber trotzdem wurde ich patschnaß. Aber das war mir egal. Ich war auf einmal so verdammt glücklich, als die gute Phoebe da immer im Kreis fuhr. Fast hätte ich noch geheult, so verdammt glücklich war ich, wenn ihr´s genau wissen wollt. Warum, weiß ich nicht. Sie sah einfach nur so verdammt nett aus, wie sie da im ihrem blauen Mantel und so immer im Kreis fuhr. Gott, ich wünschte, ihr hättet auch da sein können.









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