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Aus der Welt der Literatur



2010-01-09
Die unerträgliche Leichtigkeit des Seins (Milan Kundera / Fischer Taschenbuch Verlag / ISBN 3-596-25992-4)

Wer sich am Tier ohne nennenswerte Überwindung vergreifen kann, wem es an Empathiefähigkeit gegenüber Wehrlosem an sich mangelt, wird auch gegen die eigene Art gefühlskalt vorzugehen imstande sein. Wer die Kreatur willkürlich quält, sie als minderwertig betrachtet, als Sache, allenfalls als nützlichen Gegenstand, der wird am Ende auch Hand an seinem Nächsten anlegen können, so sich Anlaß oder Gelegenheit hierzu ergeben.
In beeindruckender Weise schreibt Kundera über das andere Verhalten, die anderen Gefühle, die Menschen beim Tod eines Tieres empfinden können. Da geht ein Tier nicht ein, da verendet es nicht. Da stirbt es.

„Die unerträgliche Leichtigkeit des Seins“ ist wohl Kunderas´ bedeutendster Roman. Er veröffentlichte ihn erst 1982, obwohl seine Handlung in die Zeit des „Prager Frühlings“ fällt, der 1968 unter russischen Panzerketten blutig endete.
Kundera, der heute in Frankreich lebt, war immer ein politischer Schriftsteller, engagierte sich einige Jahre in der Kommunistischen Partei seines Landes, mit der er schließlich endgültig brach. Seit 1981 ist er französischer Staatsbürger; seine demütigenden, beschämenden Erlebnisse nach der Niederschlagung der Reform-Bewegung in seinem Heimatland soll er nie verwunden haben.

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Textauszug:


Karenin hatte die ganze Nacht lang gewinselt. Nachdem Tomas ihn am Morgen abgetastet hatte, sagte er zu Teresa: „Wir dürfen nicht länger warten.“
Es war noch früh am Tage, bald müßten sie beide das Haus verlassen. Teresa betrat das Zimmer und ging auf Karenin zu. Bis jetzt hatte er teilnahmslos dagelegen (selbst als Tomas ihn eben untersuchte, hatte er dem keine Aufmerksamkeit geschenkt), als er nun aber hörte, wie sich die Tür öffnete, hob er den Kopf und sah Teresa an.
Sie konnte diesen Blick nicht ertragen, er machte ihr fast Angst. Nie schaute er Tomas so an, so schaute er immer nur sie an. Aber noch nie mit einer solchen Intensität wie jetzt. Es war kein verzweifelter oder trauriger Blick, nein. Es war ein Blick voll von erschreckender, unerträglicher Zutraulichkeit. Dieser Blick war eine begierige Frage. Sein Leben lang gab er ihr zu verstehen (viel inständiger als sonst), daß er immer noch bereit war, von ihr die Wahrheit zu erfahren. (Alles, was von Teresa kommt, ist für ihn Wahrheit: auch wenn sie zu ihm „Platz!“ oder „Kusch!“ sagt, so sind das Wahrheiten, mit denen er sich identifiziert und die seinem Leben einen Sinn geben.)

Dieser Blick erschreckender Zutraulichkeit war sehr kurz. Dann legte er seinen Kopf wieder auf die Pfoten. Teresa wußte, daß nie wieder jemand sie so ansehen würde.
Sie hatte ihm nie Süßigkeiten gegeben, doch vor ein paar Tagen hatte sie einige Tafeln Schokolade gekauft. Sie packte sie aus dem Silberpapier, brach sie in winzige Stücke und legte sie vor ihn hin. Dann stellte sie ein Schüsselchen mit Wasser dazu, damit ihm nichts fehlte während der Stunden, da er allein zu Hause bleiben würde. Der Blick, mit dem er sie vor einer Weile angesehen hatte, schien ihn ermattet zu haben. Obwohl die Schokolade vor ihm lag, hob er nicht mehr den Kopf.

Sie legte sich zu ihm auf den Boden und nahm ihn in die Arme. Ganz langsam und erschöpft schnupperte er an ihr und leckte ihr ein- oder zweimal über das Gesicht. Sie empfing diese Liebkosung mit geschlossenen Augen, als wollte sie sie für immer in ihr Gedächtnis einprägen. Sie drehte den Kopf, damit er ihr auch die andere Wange leckte.
Dann mußte sie zu ihrem Kälbchen gehen. Sie kehrte erst nach dem Mittagessen zurück. Tomas war noch nicht zu Hause. Karenin lag noch immer vor den Schokoladenstückchen, und als er sie kommen hörte, hob er den Kopf nicht mehr. Sein krankes Bein war angeschwollen und das Geschwür an einer neuen Stelle aufgeplatzt. Ein hellrotes Tröpfchen (es sah nicht aus wie Blut) kam zwischen den Haaren zum Vorschein.
Wieder legte sie sich zu ihm auf den Boden. Sie hatte einen Arm um seinen Leib geschlungen und hielt die Augen geschlossen. Dann hörte sie jemanden an die Tür pochen. Es ertönte ein „Herr Doktor, Herr Doktor! Hier ist das Schwein und sein Vorsitzender!“ Sie war nicht imstande, mit jemandem zu sprechen. Sie rührte sich nicht und hielt die Augen weiter geschlossen. Noch einmal war ein „Herr Doktor, die beiden Säue sind da!“ zu hören, und dann war es wieder ruhig.

Tomas kam erst eine halbe Stunde später. Er ging wortlos in die Küche und bereitete die Spritze vor. Als er das Zimmer betrat, war Teresa bereits aufgestanden, und Karenin machte große Anstrengungen, sich zu erheben. Als er Tomas sah, wedelte er schwach mit dem Schwanz.
„Schau mal“, sagte Teresa, „er lächelt noch immer.“
Sie sagte es in flehendem Ton, als wollte sie mit diesen Worten um einen kurzen Aufschub bitten, doch sie beharrte nicht darauf.
Langsam legte sie ein Leintuch auf das Sofa. Es war ein weißes Leintuch mit einem violetten Blumenmuster. Sie hatte schon alles vorbereitet und an alles gedacht, als hätte sie sich Karenins Tod bereits viele Tage im voraus vorgestellt. (Ach, wie schrecklich ist es, daß wir im voraus vom Tod derer träumen, die wir lieben!)

Karenin hatte nicht mehr die Kraft, auf das Tuch zu springen. Sie nahmen ihn auf die Arme und hoben ihn gemeinsam hoch. Teresa legte ihn auf die Seite und Tomas untersuchte sein Bein. Er fand eine Stelle, an der die Ader gut sichtbar hervortrat. Dort schnitt er mit einer Schere die Haare ab.
Teresa kniete neben dem Sofa und hielt Karenins Kopf ganz nah an ihrem Gesicht.
Tomas bat sie, die Hinterpfote über der Vene fest zu drücken, denn sie war so dünn, daß man die Nadel nur mit Mühe einführen konnte. Sie hielt Karenins Pfote fest, ohne ihr Gesicht von seinem Kopf abzuwenden. Ununterbrochen redete sie mit leiser Stimme auf ihn ein, und er dachte nur an sie. Er fürchtete sich nicht. Er leckte ihr nochmals über das Gesicht. Und Teresa flüsterte ihm zu: „Hab keine Angst, hab keine Angst, dort wird dir nichts mehr weh tun, dort wirst du von Eichhörnchen und Hasen träumen, dort gibt es Kälbchen und auch einen Mephisto, hab keine Angst ...“
Tomas stach die Nadel in die Vene und drückte auf den Kolben. Karenin zuckte ein wenig mit dem Bein, sein Atem wurde etwas schneller und hörte dann ganz auf. Teresa kniete auf dem Boden neben dem Sofa und preßte ihre Wange an seinen Kopf.







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