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Aus der Welt der Literatur



2010-10-06
Das Gut von Ulloa (Emilia Pardo Bazán / Manesse Verlag / ISBN 3-7175-1830-5)

Als eines der bekanntesten Werke Emilia Pardo Bazáns gilt der Roman „Das Gut von Ulloa“ (1886), der 1946 ins Deutsche übersetzt wurde. Er erzählt am Beispiel des an der Straße nach Santiago de Compostela gelegenen Sitzes der Moscosos vom unaufhaltsamen Niedergang des Adels und seiner feudalistischen Strukturen. Ein junger Geistlicher gerät in die für ihn unauflöslichen Wirren und Versuchungen, in die ihn der Ruf an das Gut und seine stille Leidenschaft für die ihrer Aufgabe kaum gewachsenen jungen Gutsherrin stürzen. Großer Stoff, eine große Sprache, dargereicht in einem der wundervollen schmucken Manesse-Bändchen.

Emilia Pardo Bazán (1851 – 1921) zählt zu den Großen der spanischen Literatur. Sie stammt aus aristokratischem Hause, genoß als Kind und Heranwachsende die standesgemäßen Privilegien. Ihre Familie geriet in die Turbulenzen der politischen Umwälzungen in der Mitte des 19. Jahrhunderts und zog nach Frankreich. Schon bald betätigte sich die junge Emilia Pardo Bazán literarisch und kehrte nach Spanien zurück, sobald die Verhältnisse ihr das erlaubten. Sie wurde zu einer der ersten Feministinnen des noch immer unruhigen Landes, prangerte die nach wie vor ungebrochene Männerdominanz an und machte sich für Reformen zu Gunsten der Frauen stark. Vehement griff sie in den Streit um den literarischen Naturalismus ein, wurde daraufhin selbst das Ziel heftiger Kritik, in deren Folge schließlich ihre Ehe zerbrach. Am 12. Mai 1921 starb sie in Madrid.

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Textauszug:

Julián blieb vor dem Kreuz stehen. Er war tatsächlich älter geworden, aber auch männlicher; einige Züge seiner zarten Gestalt zeichneten sich mit größerer Festigkeit nach. Seine schmalen, blassen Lippen machten die Ernsthaftigkeit eines Mannes deutlich, der es gewöhnt ist, jede leidenschaftliche Anwandlung, jeden rein irdischen Impuls zu beherrschen. Das Alter hatte ihn gelehrt und ihm offenbart, was der Verdienst und die Krone des wahren Priesters sein soll. Er war ebenso nachsichtig gegenüber den meisten Menschen wie hart gegen sich selbst.

Als er den Innenhof von Ulloa betrat, hatte er eine seltsame Erscheinung. Sie ähnelte einem sehr lieben Menschen, einem Menschen, den er sehr geliebt hatte: sie lief dort umher, auferstanden, lebendig, umgab ihn mit ihrer Persönlichkeit und wärmte ihn mit ihrem Atem. Wer könnte dieser Mensch sein? Gott steh mir bei! Gab er sich nicht dem Wahn hin, daß die Senóra de Moscoso lebte, obwohl er doch ihren Totenbrief gelesen hatte! Es war eine seltsame Vision, die zweifellos von seiner Rückkehr nach Ulloa nach einer Spanne von zehn Jahren verursacht worden war. Der Tod der Senóra de Moscoso! Nichts leichter, als sich davon zu überzeugen. Dort war der Friedhof. Er ging auf die efeubewachsene Mauer zu, drückte die Tür auf und trat ein. Es war ein dunkler Ort, obwohl ihm die Trauerweiden und Zypressen fehlten, die in ihrer theatralischen und majestätischen Haltung die Feierlichkeit der Friedhöfe verstärken. Auf der einen Seite begrenzten ihn die Lehmwände der Kirche, auf den anderen drei Mauern, die von Efeu und Unkraut überwuchert waren. Die Pforte, die gegenüber dem Eingang zum Innenhof lag, bestand aus einem Holzgitter, durch das man am klaren, weiten Horizont die Berge erkennen konnte, die zu der Stunde, in der die Sonne ohne allzu große Hitze dem Zenit zuzustreben beginnt und in der die Natur erwacht und gleichsam aus einem Bad steigt und sich vor Frische und morgendlicher Kälte schüttelt, violett verfärbt waren.

Über das Gitter neigte sich ein alter Olivenbaum, in dem tausend unruhige Spatzen nisteten, die seine Zweige mit ihrem schnellen Flug schüttelten. Ihm gegenüber stand ein riesiger Hortensienbusch, welk und gebeugt vom jahreszeitlichen Regen, mit seinen Stengeln von vergilbten blauen Blüten. Darauf beschränkte sich der Schmuck des Friedhofs, nicht jedoch seine Vegetation. Sie weckte in ihrer wuchernden Fülle Abneigung und abergläubische Furcht und spiegelte der Phantasie vor, daß in den kräftigen Brennesseln, die halb so hoch wie ein Mensch waren, in jenem üppigen Kraut, in den starken Disteln, deren Blüten in honiggelben Schattierungen leuchteten, daß sich in ihnen durch eine geheimnisvolle Wanderung die Seelen all jener, die hier für immer ruhten, ohne gelebt, ohne geliebt, ohne jemals eine erhabene, großzügige, rein geistige und abstrakte Idee, die den Geist eines Denkers oder Künstlers bewegen, gehabt zu haben, verkörperten, und die in gewisser Weise auch etwas Vegetatives waren. Es schien, daß es die menschliche Substanz war – eine rauhe, atavistische, niedrige, tief in Unwissenheit und der Materie steckende Menschlichkeit – , die voller Kraft und Saft eine solche Fülle melancholischer Pflanzen nährte und gedeihen ließ. Und in der Tat stieß der Fuß auf dem Boden der im Gegensatz zur glatten Oberfläche des Innenhofs hier voller kleiner Unebenheiten war, manchmal auf einen ungenügend bedeckten Sarg oder auf nachgiebige, weiche Stellen, die Grausen und Schrecken verursachten, als würde man auf die erschlafften Körperteile eines Leichnams treten. Ein eisiger Hauch, ein Geruch nach Moder und Verwesung, eine wahre Grabesstimmung ging von diesem Boden aus, der voller Unebenheiten, der vollgestopft war mit übereinandergelegten Toten. Und aus dem feuchten Grün, das von den glänzenden Schneckenspuren durchzogen war, erhoben sich die Kreuze aus schwarzem Holz mit weißen Verzierungen und mit eigenartigen Aufschriften voller Schreibfehler und seltsamer Schnitzer.

Julián, der an der Unruhe, an dem Kribbeln in den Fußsohlen litt, das uns beim Treten auf etwas Weiches, Lebendiges oder auf etwas, das zumindest mit einer Empfindsamkeit und Leben bedacht war, ergreift, erlebte eine große Erschütterung. Auf einem der Kreuze, höher als die übrigen, stand in weißen Buchstaben ein Name. Er trat näher und entzifferte die Inschrift, ohne sich bei den orthographischen Mängeln aufzuhalten: „Hier ruht die Asche von Primitivo Suarez; seine Verwandten und Freunde beten für ihn zu Gott.“ Der Boden wölbte sich an dieser Stelle zu einem Hügel. Julián murmelte ein Gebet und wandte sich schnell ab, glaubte er doch unter seinen Füßen den bronzenen Körper seines schrecklichen Feindes zu spüren. Im selben Moment flog ein kleiner weißer Schmetterling von dem Kreuz, einer der letzten in dem Jahr, die nur noch langsam fliegen, weil sie die kalte Luft umgibt, und die sich auf dem ersten günstigen Platz niederlassen. Der neue Pfarrer von Ulloa folgte ihm und sah ihn auf einem winzigen Mausoleum niedergehen, das in dem Winkel zwischen der Einfriedung und der Kirchenmauer stand.
Dort hielt das Insekt an, und auch Julián mit klopfendem Herzen, umnebeltem Blick und Geist, zum ersten Mal seit langen Jahren verwirrt und außer sich unter einer so tiefen und außerordentlichen Erschütterung; er konnte sich selbst nicht erklären, wie sie ihn ergriff, überwältigte und aus seinem normalen Zustand riß, Dämme brach, Mauern überwand, Hindernisse besiegte, ihn völlig niederwarf und mit der übermenschlichen Macht lange unterdrückter Gefühle gefangenhielt, die endlich ihre unumschränkte Herrschaft über die Seele antreten, weil sie sie überschwemmen und ertränken.

Man darf die Lächerlichkeit des aus Steinen und Kalk errichteten Mausoleums nicht beachten, das die ungeübte Hand eines ländlichen Schmierers mit Totenköpfen, Knochen und anderen Sterbesymbolen geschmückt hat. Er brauchte die Inschrift nicht zu entziffern, weil er sicher war, daß dort, wo sich der Schmetterling niedergelassen hatte, Nucha ruhte, die Senórita Marcelina, die Heilige, das Opferlamm, die immer sanfte und himmlische kleine Jungfrau. Hier lag sie allein, verlassen, verkauft, beschimpft, verleugnet, mit den brutal mißhandelten Handgelenken, dem von der Krankheit, vom Schrecken und vom Schmerz gezeichneten Gesicht. Als er daran dachte, stockte das Gebet auf Juliáns Lippen, die Zeit lief zehn Jahre zurück, und in einer jener seltenen, doch heftigen, unwiderstehlichen Anwandlungen fiel er auf die Knie, öffnete die Arme, küßte glühend die Wand der Nische, schluchzte dabei wie ein Kind oder eine Frau, rieb die Wangen auf der kalten Oberfläche und krallte die Hände in den Kalk, bis er ihn herausbrach.

Er vernahm Lachen, Getuschel und fröhliches Schwatzen, das dem Ort und der Situation nicht angemessen war. Er drehte sich um und stand verwirrt auf. Vor sich hatte er ein zauberisches Paar, das von der steigenden, sich dem Zenit nahenden Sonne beschienen wurde. Es war der hübscheste Junge, den man sich nur vorstellen konnte; und wenn er als Kind einem antiken Amor glich, so verlieh ihm die Verlängerung der Linien, die die Pubertät von der Kindheit unterscheidet, bemerkenswerte Ähnlichkeit mit den Erzengeln und den auf Erden wandelnden Engeln der Bibeldrucke, die weibliche Schönheit und Lockenpracht mit anmutiger männlicher Kraft vereinen. Was das Mädchen anbetraf, mager für seine elf Jahre, so zerriß die Ähnlichkeit mit der Mutter, wie sie im selben Alter gewesen war, Julián das Herz: die gleichen langen schwarzen Zöpfe, das gleiche blasse Gesicht, doch matter, dunkler, von ebenmäßigerem Oval, glänzenderen Augen und festerem Blick. Und ob Julián das Paar erkannte! Er hatte die beiden oft genug auf dem Arm gehalten!
Nur ein Umstand ließ ihn zweifeln, ob die beiden reizenden Kinder wirklich der Bastard und die rechtmäßige Erbin der Moscosos waren: während die Kleidung von Sabels Sohn aus gutem Stoff von der Art eines wohlhabenden Bauern war, trug Nuchas Tochter ein altes Baumwollkleid und so zerrissene Schuhe, daß sie beinahe barfuß lief.



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