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Aus der Welt der Literatur



2011-11-03
Der Nachtwandler (Annette von Droste-Hülshoff)

Wie so vielen großen Frauengestalten der Literatur, so blieb auch Annette von Droste-Hülshoff das eigene Lebensglück versagt. Vielleicht ist das die Voraussetzung, um Lyrik und Prosa von der Droste-Hülshoffschen Art und ihrer Schwestern im Geiste schreiben zu können. Schwermut, Lebensangst und tiefste Naturverbundenheit ziehen sich durch fast alle ihre Texte, in denen Gedichte und Balladen die Prosastücke bei weitem überwiegen. „Der Knabe im Moor“ und „Das Hirtenfeuer“ kennt fast jeder Literaturinteressierte, ebenso die bewegende Novelle „Die Judenbuche“. Das Münsterland, ihre Heimat, ist noch heute vielerorts geprägt von düsteren Mooren. Ihre oftmals furchteinflößende Existenz, die mit ihnen verbundenen Legenden und Sagen und auch wahren Geschichten ließen Annette von Droste-Hülshoff zeitlebens nicht los, prägen ihr Wirken in unübersehbarer, unnachahmlicher Weise.

Annette von Droste-Hülshoff (12. Januar 1797 – 24. Mai 1848) zählt wohl zu den bemerkenswertesten Schriftstellerinnen der Romantik, obgleich sie zu keiner Zeit das große Ansehen und die Anerkennung erreichen konnte, wie sie den damaligen Größen dieser literarischen Epoche zuteil wurden. Sie kränkelte von früh an, war nie verheiratet, verbrachte ihre Kindheit auf der Wasserburg ihrer adeligen Eltern in der Nähe von Münster. Sie rebellierte niemals richtig, fügte sich scheinbar ohne Widerspruch in das Los, das ihr als Adeligen-Tochter zu jener Zeit im stark vom Katholizismus geprägten Westfalen beschieden war. Zwar entwickelte sie Gefühle für den einen oder anderen Mann, der ihr begegnen sollte, doch die jeweiligen Umstände brachten es mit sich, daß es zu keiner engeren Verbindung kam. Herbe Enttäuschungen gesellten sich hinzu, so daß sie sich schließlich völlig zurückzog, auch Westfalen verließ und sich zu Bekannten an den Bodensee begab, wo sie fortan lebte. Dort – auf dem Friedhof in Meersburg – liegt sie auch begraben.


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Der Nachtwandler (Annette von Droste-Hülshoff)



Siehst du das Ziegeldach am Hage dort?
Die Dämmerung sinkt, laß uns vorübereilen,
Bald steigt der Vollmond an des Moores Bord,
Dann ist´s nicht gut in dieser Nähe weilen;
Hier schwebt kein Spuk den Fichtengang hinauf,
Kein Räuber paßt in jenem Schuppen auf,
Ein Bürgerhaus, ein bürgerlich Beginnen,
Es wohnt ein Greis, es wohnen Diener drinnen.

Alt ist der Her; wie alt, man weiß es kaum,
Er liebt es nicht, im Kirchenbuch zu deuten;
Ihm starb ein Weib vor langer Jahre Raum,
Und auch ein Kind – das sind verschollne Zeiten;
Es heißt, er habe ihr den Arzt versagt,
Mit schlechter Kost sein krankes Kind geplagt;
Was sagt man nicht, um Leute zu verdammen,
Wo sich das Gold in Haufen drängt zusammen!

Einst war er arm, hat kümmerlich gezehrt,
Wohl kümmerlicher noch als andre eben;
Da, heißt es, hab um eines Talers Wert
Er einen Leib dem Galgen übergeben.
Jung sei der Dieb gewesen, hungerbleich,
Und seine Mutter krank; wer glaubt es gleich?
Neid folgt dem Reichen – sieh die Hütten drüben!
Dort wohnt die Not, sein ist ihr Gut geblieben.

Man kann ihn fleißig in der Kirche sehn,
Und seine Sitten durfte keiner rügen;
Doch seit des Körpers Kräfte ihm vergehn,
Muß übelem Gebrest der Greis erliegen;
Sooft die Mondesscheibe füllt den Schein,
Hüllt er sich schlafend in das Leilach ein
Und klimmt vom Bett, das Kerzenstümpflein fachend,
Ein Diener folgt ihm, seinen Schritt bewachend.

Aus jener Hütte sieht der Fröner ihn
Dann stundenlang am Fensterglase zählen,
Das Gold befeilen, Federstriche ziehn
Und plötzlich greifen, wie nach Diebeskehlen;
Dann ist auch wohl ein Schrei hinausgeschallt,
Als tue seiner Seele man Gewalt,
Bis ihm die Arme sinken wie verwittert
Und weiter er mit seinem Lämpchen zittert.

Sein nächster Gang ist jene Kammer, wo
Bei einem größern Lager steht ein kleines;
Dort wiegt er sich am Bettchen, so und so,
als schüttl er eine Flasche edlen Weines,
Und gießt und gießt, als würd sie nimmer leer,
Und stopft und stopft wie Bissen mehr und mehr,
Und tastend scheint er einen Puls zu greifen,
Gebückt, als lausch er schwachen Odems Pfeifen.

Und an dem andern Lager steht er dann,
Scheint tröpfelnd über Arzenein zu bücken;
Er breitet schwingend eine Decke an,
Und einen Schirm scheint er hinanzurücken.
Im Hui hat er dann das Glas erreicht,
Das Fenster, wo sich fern der Galgen zeigt –
Der Diener springt, man hört ein dumpf Gewimmer –
Das Fenster klirrt – und dunkel ist das Zimmer.

Schreit´ schneller, schneller! an der Scheibe dort,
Sieh, wie es leise glimmt und Funken zittert;
Nun zuckt ein blaues Flämmchen; fort, nur fort!
Mir ist, wie wenn die ganze Luft gewittert.
Schau nicht zurück! Verwegner, fluch ihm nicht!
Laß ihn allein mit Gott und dem Gericht!
Meinst du, ein Fluch vergrößre seine Leiden?
O laß den Dieb am Galgen ihn beneiden!



(Aus "Droste-Hülshoff" - Werke in einem Band - / Aufbau-Verlag / ISBN 3-351-00674-8)



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