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Aus der Welt der Literatur



2012-05-27
Die Judenbuche (Annette von Droste-Hülshoff / Reclam Verlag / ISBN 978-3-15-001858-3)

Annette von Droste-Hülshoff wird mehr über ihre Lyrik als über ihre Prosa wahrgenommen, doch sie schrieb auch bemerkenswerte Erzählungen und Novellen, darunter „Die Judenbuche“, die als ihr bekanntestes Prosawerk gilt und auf einer tatsächlichen Begebenheit beruht, die sich vor ihrer Zeit im Westfälischen zutrug.
Schuld und späte Sühne, die Unfähigkeit des Menschen, seiner Strafe, seiner Buße, der Qual seines Gewissens auf Dauer zu entgehen, ziehen sich als Handlungsfaden durch die erzählte Geschichte, in der ein Jude, Aaron, unter einer Buche erschlagen wird und dem Mörder die Flucht gelingt. Aarons Sippe kauft den Baum, ritzt in seine Rinde die hebräische Inschrift: „Wenn du dich diesem Orte nahst, so wird es dir ergehen, wie du mir getan hast.“ Eine dunkle, eine drohende Prophezeiung, die sich noch nach Jahrzehnten erfüllen sollte.

Wie so vielen großen Frauengestalten der Literatur, so blieb auch Annette von Droste-Hülshoff eigenes Lebensglück versagt. Vielleicht ist das eine der wichtigen Voraussetzungen, um Lyrik und Prosa der Droste-Hülshoffschen Art und ihrer Schwestern im Geiste niederschreiben zu können. Schwermut, Lebensangst und tiefste Naturverbundenheit ziehen sich durch fast alle ihre Texte, in denen Gedichte und Balladen die Prosastücke bei weitem überwiegen. „Der Knabe im Moor“ und „Das Hirtenfeuer“ kennt fast jeder Literaturinteressierte, ebenso die bewegende Novelle „Die Judenbuche“. Das Münsterland, ihre Heimat, ist noch heute vielerorts geprägt von düsteren Mooren. Ihre oftmals furchteinflößende Existenz, die mit ihnen einhergehenden Legenden und Sagen und auch wahren Geschichten ließen Annette von Droste-Hülshoff zeitlebens nicht los, prägen ihr Wirken in unübersehbarer, unnachahmlicher Weise.

Annette von Droste-Hülshoff (12. Januar 1797 – 24. Mai 1848) zählt wohl zu den bemerkenswertesten Schriftstellerinnen der Romantik, obgleich sie zu keiner Zeit das große Ansehen und die Anerkennung erreichen konnte, wie sie den damaligen Größen dieser literarischen Epoche zuteil wurden. Sie kränkelte von früh an, war nie verheiratet, verbrachte ihre Kindheit auf der Wasserburg ihrer adeligen Eltern in der Nähe von Münster. Sie begehrte niemals richtig auf, fügte sich scheinbar ohne Widerspruch in das Los, das ihr als Adeligen-Tochter zu jener Zeit im stark vom Katholizismus geprägten Westfalen von Beginn an beschieden war. Zwar entwickelte sie Gefühle für den einen oder anderen Mann, der ihr begegnen sollte, doch die jeweiligen Umstände brachten es mit sich, daß es zu keiner engeren Verbindung kam. Herbe Enttäuschungen gesellten sich hinzu, so daß sie sich schließlich völlig zurückzog, Westfalen verließ und sich zu Bekannten an den Bodensee begab, wo sie fortan lebte. Dort – auf dem Friedhof in Meersburg – liegt sie auch begraben.


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Die Judenbuche (Annette von Droste-Hülshoff)


Textauszug (Beginn):


„Wo ist die Hand so zart, daß ohne Irren
Sie sondern mag beschränkten Hirnes Wirren,
So fest, daß ohne Zittern sie den Stein
Mag schleudern auf ein arm verkümmert Sein?
Wer wagt es, eitlen Blutes Drang zu messen,
Zu wägen jedes Wort, das unvergessen
In junge Brust die zähen Wurzeln trieb,
Des Vorurteils geheimen Seelendieb?
Du Glücklicher, geboren und gehegt
Im lichten Raum, von frommer Hand gepflegt,
Leg hin die Waagschal - nimmer dir erlaubt!
Laß ruhn den Stein - er trifft dein eignes Haupt!


Friedrich Mergel, geboren 1738, war der einzige Sohn eines sogenannten Halbmeiers oder Grundeigentümers geringerer Klasse im Dorfe B., das, so schlecht gebaut und rauchig es sein mag, doch das Auge jedes Reisenden fesselt durch die überaus malerische Schönheit seiner Lage in der grünen Waldschlucht eines bedeutenden und geschichtlich merkwürdigen Gebirges. Das Ländchen, dem es angehörte, war damals einer jener abgeschlossenen Erdwinkel ohne Fabriken und Handel, ohne Heerstraßen, wo noch ein fremdes Gesicht Aufsehen erregt und eine Reise von dreißig Meilen den Vornehmeren zum Ulysses seiner Gegend machte - kurz, ein Fleck, wie es deren sonst so viele in Deutschland gab, mit all den Mängeln und Tugenden, all der Originalität und Beschränktheit, wie sie nur in solchen Zuständen gedeihen.

Unter höchst einfachen und häufig unzulänglichen Gesetzen waren die Begriffe der Einwohner von Recht und Unrecht einigermaßen in Verwirrung geraten, oder vielmehr, es hatte sich neben dem gesetzlichen ein zweites Recht gebildet, ein Recht der öffentlichen Meinung, der Gewohnheit und der durch Vernachlässigung entstandenen Verjährung. Die Gutsbesitzer, denen die niedere Gerichtsbarkeit zustand, straften und belohnten nach ihrer in den meisten Fällen redlichen Einsicht; der Untergebene tat, was ihm ausführbar und mit einem etwas weiten Gewissen verträglich schien, und nur dem Verlierenden fiel es zuweilen ein, in alten staubichten Urkunden nachzuschlagen. - Es ist schwer, jene Zeit unparteiisch ins Auge zu fassen; sie ist seit ihrem Verschwinden entweder hochmütig getadelt oder albern gelobt worden, da den, der sie erlebte, zuviel teure Erinnerungen blenden und der Spätergeborene sie nicht begreift. Soviel darf man indessen behaupten, daß die Form schwächer, der Kern fester, Vergehen häufiger, Gewissenlosigkeit seltener waren. Denn wer nach seiner Überzeugung handelt, und sei sie noch so mangelhaft, kann nie ganz zugrunde gehen, wogegen nichts seelentötender wirkt, als gegen das innere Rechtsgefühl das äußere Recht in Anspruch zu nehmen.

Ein Menschenschlag, unruhiger und unternehmender als alle seine Nachbarn, ließ in dem kleinen Staate, von dem wir reden, manches weit greller hervortreten als anderswo unter gleichen Umständen. Holz- und Jagdfrevel waren an der Tagesordnung, und bei den häufig vorfallenden Schlägereien hatte sich jeder selbst seines zerschlagenen Kopfes zu trösten. Da jedoch große und ergiebige Waldungen den Hauptreichtum des Landes ausmachten, ward allerdings scharf über die Forsten gewacht, aber weniger auf gesetzlichem Wege als in stets erneuten Versuchen, Gewalt und List mit gleichen Waffen zu überbieten.

Das Dorf B. galt für die hochmütigste, schlauste und kühnste Gemeinde des ganzen Fürstentums. Seine Lage inmitten tiefer und stolzer Waldeinsamkeit mochte schon früh den angeborenen Starrsinn der Gemüter nähren; die Nähe eines Flusses, der in die See mündete und bedeckte Fahrzeuge trug, groß genug, um Schiffbauholz bequem und sicher außer Land zu führen, trug sehr dazu bei, die natürliche Kühnheit der Holzfrevler zu ermutigen, und der Umstand, daß alles umher von Förstern wimmelte, konnte hier nur aufregend wirken, da bei den häufig vorkommenden Scharmützeln der Vorteil meist auf seiten der Bauern blieb.

Dreißig, vierzig Wagen zogen zugleich aus in den schönen Mondnächten mit ungefähr doppelt soviel Mannschaft jeden Alters, vom halbwüchsigen Knaben bis zum siebzigjährigen Ortsvorsteher, der als erfahrener Leitbock den Zug mit gleich stolzem Bewußtsein anführte, als er seinen Sitz in der Gerichtsstube einnahm. Die Zurückgebliebenen horchten sorglos dem allmählichen Verhallen des Knarrens und Stoßens der Räder in den Hohlwegen und schliefen sacht weiter. Ein gelegentlicher Schuß, ein schwacher Schrei ließen wohl einmal eine junge Frau oder Braut auffahren; kein anderer achtete darauf. Beim ersten Morgengrau kehrte der Zug ebenso schweigend heim, die Gesichter glühend wie Erz, hier und dort einer mit verbundenem Kopf, was weiter nicht in Betracht kam, und nach ein paar Stunden war die Umgegend voll von dem Mißgeschick eines oder mehrerer Forstbeamten, die aus dem Walde getragen wurden, zerschlagen, mit Schnupftabak geblendet und für einige Zeit unfähig, ihrem Berufe nachzukommen. In diesen Umgebungen war Friedrich Mergel geboren, in einem Hause, das durch die stolze Zugabe eines Rauchfangs und minder kleiner Glasscheiben die Ansprüche seines Erbauers sowie durch seine gegenwärtige Verkommenheit die kümmerlichen Umstände des jetzigen Besitzers bezeugte.



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