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Aus der Welt der Literatur



2013-09-10
Die Erblindende (Rainer Maria Rilke / Gedichte / Reclam Verlag / ISBN 978-3-15-009623-9)

Rilkes Gedichte verkünden Botschaften, drücken Stimmungen und Visionen aus, bestehen meist mehr aus Gedanken und Träumen als aus Ereignissen. Sein Leben lang litt er unter der Unvollkommenheit der menschlichen Existenz, unter den Unzulänglichkeiten und Fährnissen der Welt. Und wer ihn nur lange genug liest, tut es ihm - falls er nicht schon ohnehin sein irdisches Dasein nicht als vorgezogenes Paradies begreift - möglicherweise bald nach.

Bereits mit 51 Jahren stirbt er in der Schweiz an Leukämie; es heißt, daß ihn die Ärzte, die erst spät zur richtigen Diagnose fanden, bis zuletzt im Unklaren über seine Krankheit ließen und er nicht wußte, woran er litt. An der Südseite der kleinen Kirche „St. Romanus“ in Raron im Schweizer Kanton Wallis liegt er begraben. Das Holzkreuz auf seinem Grab, das nur seine Initialen „R.M.R“ und die Jahreszahlen 1875 und 1926 trägt, wird noch heute oft entwendet, mit der an der Kirchenmauer angebrachten Platte ist das weniger gut möglich. Auf ihr stehen die von ihm selbst gewählten Abschiedsworte „Rose, oh reiner Widerspruch, Lust, niemandes Schlaf zu sein unter so viel Lidern“. Rilke liebte Rosen über alles, soviel ist bekannt, dennoch mutmaßt und rätselt die literarische Welt bis auf den heutigen Tag noch immer über jenen geheimnisvollen Grabesspruch.

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Die Erblindende
(Rainer Maria Rilke)


Sie saß so wie die anderen beim Tee.
Mir war zuerst, als ob sie ihre Tasse
ein wenig anders als die andern fasse.
Sie lächelte einmal. Es tat fast weh.

Und als man schließlich sich erhob und sprach
und langsam und wie es der Zufall brachte
durch viele Zimmer ging (man sprach und lachte),
da sah ich sie. Sie ging den andern nach,

verhalten, so wie eine, welche gleich
wird singen müssen und vor vielen Leuten;
auf ihren hellen Augen die sich freuten
war Licht von außen wie auf einem Teich.

Sie folgte langsam und sie brauchte lang
als wäre etwas noch nicht überstiegen;
und doch: als ob, nach einem Übergang,
sie nicht mehr gehen würde, sondern fliegen.



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