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Aus der Welt der Literatur



2015-05-23
Der Engel (Rainer Maria Rilke)

Rilkes Gedichte verkünden Botschaften, drücken Stimmungen und Visionen aus, bestehen meist mehr aus Gedanken und Träumen als aus Ereignissen. Sein Leben lang litt er unter der Unvollkommenheit der menschlichen Existenz, unter den Unzulänglichkeiten und Fährnissen der Welt. Und wer ihn nur lange genug liest, tut es ihm - falls er nicht schon ohnehin sein irdisches Dasein nicht als vorgezogenes Paradies begreift - möglicherweise bald nach.

Bereits mit 51 Jahren stirbt er in der Schweiz an Leukämie; es heißt, daß ihn die Ärzte, die erst spät zur richtigen Diagnose fanden, bis zuletzt im Unklaren über seine Krankheit ließen und er nicht wußte, woran er litt. An der Südseite der kleinen Kirche „St. Romanus“ in Raron im Schweizer Kanton Wallis liegt er begraben. Das Holzkreuz auf seinem Grab, das nur seine Initialen „R.M.R“ und die Jahreszahlen 1875 und 1926 trägt, wird noch heute oft entwendet, mit der an der Kirchenmauer angebrachten Platte ist das weniger gut möglich. Auf ihr stehen die von ihm selbst gewählten Abschiedsworte „Rose, oh reiner Widerspruch, Lust, niemandes Schlaf zu sein unter so viel Lidern“. Rilke liebte Rosen über alles, soviel ist bekannt, dennoch mutmaßt und rätselt die literarische Welt bis auf den heutigen Tag noch immer über jenen geheimnisvollen Grabesspruch.

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Das Gedicht „Der Engel“ ist Ausfluß des Buches „König Bohusch“, das Rilkes Liebe zu seiner böhmischen Heimat, zur Geburtsstadt Prag widerspiegelt und in dem er über seine Kindheit und Jugendzeit erzählt.

Textauszug (Verlag der Nation, Berlin / Verlagsgruppe Husum /
ISBN: 3373002435):

„Sehen Sie, ich bin ja so ein armer Kerl. Wenn Sie wüßten, wie arm ich bin; am Vormittag, da schreibe ich ab in der Redaktion, und am Abend, da bin ich bei der Mutter, sie ist so alt und sieht fast nichts mehr. So ist es jeden Tag. Und am Sonntag, wenn ich meine Frantischka sehe, wissen Sie, wo wir dann bleiben? Auf der Malvasinka. Dort, wo die grünen Kreuze stehen, eins wie das andere. Lauter Kinder liegen dort, und auf den schmalen Blechtafeln steht immer nur irgendein Vorname, ‚der kleine Karel’ oder ‚die kleine Marie’, und ein Gebet dabei. So ist das dort. Und dort bleiben wir am Sonntag. ‚Hier sind wir allein, Milatschku’, sagt meine Frantischka. ‚Ja, sag’ ich, Frantischka, hier sind wir allein.’ Und dabei weiß ich, daß wir bei lauter Toten sind. Macht das was? Es ist ja immer noch was dazwischen, manchmal Frühling, manchmal Schnee. Ach, ich bin ja so ein armer Kerl.“ …


Der Engel

Hin geh ich durch die Malvasinka
die Kinderreih, wo sanft und gut
die kleine Anka oder Ninka
in ihrem letzten Bettchen ruht.

Auf einem schmalen Schollenhügel
kniet, ganz versteckt in hohem Mohn,
mit staubigem, gebrochenem Flügel
ein Engelchen aus rohem Thon.

Das flügellahme Kindchen flößte
mir Mitleid ein, - das arme Ding …
Da, sieh! Von seinen Lippen löste
sich leicht ein kleiner Schmetterling. –





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