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Aus der Welt der Literatur



2017-05-24
Der Mann ohne Eigenschaften (Robert Musil / Rowohlt / ISBN 3 499 13462 4)

An diesem zur Weltliteratur zählenden Roman „Der Mann ohne Eigenschaften“, der stark autobiographisch gefärbt ist, hat Musil, 1880 bei Klagenfurt geboren, seit den 1920er Jahren bis zu seinem Tod im Frühjahr 1942 fortlaufend gearbeitet, ohne ihn je in Gänze beenden zu können. Die inzwischen dazu veröffentlichten Deutungen, Analysen und Rezensionen wollen kein Ende finden, dauern bis in die Gegenwart an.
Musil verfaßte Novellen, Essays und Bühnenstücke, schrieb zwei Romane, außer dem hier vorgestellten noch „Die Verwirrungen des Zöglings Törleß“, der ebenfalls starkes Aufsehen erregte, es bis zur Schullektüre brachte, doch zu keiner Zeit an Musils unbestrittenes Hauptwerk heranreichte.

Der 1000-seitige Roman (das so bezeichnete Erste und Zweite Buch) ist für viele, die ihn zur Hand nehmen, schwierig zu lesen, vielen lesen ihn nicht zu Ende, fühlen sich von Art und Fülle des Inhalts erdrückt. Doch ihnen entgeht – und deshalb findet der Text, besser: die Texte, andererseits ebenso begeisterte, enthusiastische Befürworter – ein Lesegenuß sondergleichen.

Musil breitet in seinem Buch – oft seitenlang - Gedanken und Anmerkungen, Überlegungen und Deutungen, Beobachtungen und Analysen in einer Dichte und Detailverliebtheit aus, die atemlos machen, unterstrichen und verstärkt durch seinen schier unerschöpflichen Wissens- und Erfahrungsschatz. Er kennt, so scheint´s, die Menschen und das Leben und dessen Banalitäten, Skurrilitäten, Gewöhnlichkeiten.
Einer spektakulären Handlung bedarf es da nicht erst, und „Der Mann ohne Eigenschaften“ kommt bestens ohne sie aus, fesselt indes diejenigen, die mit ihm und seinen mehr oder weniger Alltäglichkeiten etwas anzufangen wissen, bis zur letzten Seite.


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Textauszug:

… Die Muskelleistung eines Bürgers, der ruhig einen Tag lang seines Wegs geht, ist bedeutend größer als die eines Athleten, der einmal im Tag ein ungeheures Gewicht stemmt; das ist physiologisch nachgewiesen worden, und also setzen wohl auch die kleinen Alltagsleistungen in ihrer gesellschaftlichen Summe und durch ihre Eignung für diese Summierung viel mehr Energie in die Welt als die heroischen Taten; ja, die heroische Leistung erscheint geradezu winzig, wie ein Sandkorn, das mit ungeheurer Illusion auf einen Berg gelegt wird. Dieser Gedanke gefiel ihm. …..

… Nichts setzte ihn so in Erstaunen wie die Zahl der Vereine, die es gibt. Es meldeten sich Land- und Wasser-, Mäßigkeits- und Trinkvereine, kurz Vereine und Gegenvereine. Diese Vereine förderten die Bestrebungen ihrer Mitglieder und störten die der anderen. Es machte den Eindruck, daß jeder Mensch mindestens einem Vereine angehöre. „Erlaucht“, sagte Ulrich erstaunt, „das kann man nicht mehr Vereinsmeierei nennen, wie man es arglos gewohnt ist; das ist der ungeheuerliche Zustand, daß in der Art von Ordnungsstaat, die wir erfunden haben, jeder Mensch noch einer Räuberbande angehört …!“ …

… „Die meisten hatten aber schon einen Verein, und da war die Sache anders. Verhältnismäßig einfach, wenn ein Fußballverein anregte, seinem Rechtsaußen den Professortitel zu verleihen, um die Wichtigkeit der neuzeitlichen Körperkultur zu dokumentieren; denn da konnte man immerhin Entgegenkommen in Aussicht stellen. Schwierig jedoch in Fällen wie dem folgenden, wo der Besuch eines etwa fünfzigjährigen Mannes zu empfangen war, der sich als Kanzleioberoffizial vorstellte; seine Stirn hatte das Leuchten von Märtyrerstirnen, und er erklärte, der Gründer und Obmann des Stenographievereins „Öhl“ zu sein, der sich erlaube, das Interesse des Sekretärs der großen patriotischen Aktion auf das Kurzschriftsystem „Öhl“ zu lenken. ….

… Antwort Nr. 1: Weil Weltgeschichte zweifellos ebenso entsteht wie alle anderen Geschichten. Es fällt den Autoren nichts Neues ein, und sie schreiben einer vom anderen ab. Das ist der Grund, warum alle Politiker Geschichte studieren, statt Biologie oder dergleichen. Soviel von den Autoren.
Nummer zwei: Größtenteils entsteht Geschichte aber ohne Autoren. Sie entsteht nicht von einem Zentrum her, sondern von der Peripherie aus kleinen Ursachen. Wahrscheinlich gehört gar nicht so viel dazu, wie man glaubt, um aus dem gotischen Menschen oder dem antiken Griechen den modernen Zivilisationsmenschen zu machen. Denn das menschliche Wesen ist ebenso leicht der Menschenfresserei fähig wie der Kritik der reinen Vernunft; es kann mit den gleichen Überzeugungen und Eigenschaften beides schaffen, wenn die Umstände danach sind, und sehr großen äußeren Unterschieden entsprechen dabei sehr kleine innere.
Abschweifung Nummer eins: Ulrich erinnerte sich einer ähnlichen Erfahrung aus seiner Militärzeit: Die Eskadron reitet in Zweierreihen, und man läßt „Befehl weitersagen“ üben, wobei ein leise gesprochener Befehl von Mann zu Mann weitergegeben wird; befiehlt man nun vorne: „Der Wachtmeister soll vorreiten“, so kommt hinten heraus: „Acht Reiter sollen sofort erschossen werden“ oder so ähnlich. Auf die gleiche Weise entsteht auch Weltgeschichte. …

… Der Geist hat erfahren, daß Schönheit gut, schlecht, dumm oder bezaubernd macht. Er zerlegt ein Schaf und einen Büßer und findet in beiden Demut und Geduld. Er untersucht einen Stoff und erkennt, daß er in großen Mengen ein Gift, in kleineren ein Genußmittel sei. Er weiß, daß die Schleimhaut der Lippen mit der Schleimhaut des Darms verwandt ist, weiß aber auch, daß die Demut dieser Lippen mit der Demut alles Heiligen verwandt ist. Er bringt durcheinander, löst auf und hängt neu zusammen. Gut und bös, oben und unten sind für ihn nicht skeptisch-relative Vorstellungen, wohl aber Glieder einer Funktion, Werte, die von dem Zusammenhang abhängen, in dem sie sich befinden. …

… bemerkt man schließlich das, was man die Seele nennt. Man denkt, ahnt, fühlt sie natürlich allezeit hinzu; in den verschiedensten Arten von Ersätzen und je nach Temperament. In der Jugend als ein deutliches Gefühl der Unsicherheit bei allem, was man tut, ob es wohl auch das rechte sei. Im Alter als Staunen darüber, wie wenig man von dem getan hat, was man eigentlich vorhatte. Dazwischen als Trost, daß man ein verfluchter, tüchtiger, braver Kerl sei, wenn auch nicht alles im einzelnen zu rechtfertigen ist, was man tut; oder daß ja auch die Welt nicht so sei, wie sie solle, so daß am Ende alles, was man verfehlt hat, noch einen gerechten Ausgleich darstellt; und schließlich denken manche Leute sogar über alles hinaus an einen Gott, der das ihnen fehlende Stück in der Tasche trägt. …






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