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Aus der Welt der Literatur



2018-03-16
Die Aufzeichnungen des Malte Laurids Brigge (Rainer Maria Rilke / Reclam / ISBN 978-3-15-009626-0)

Rilke war ein begnadeter Lyriker; indes wurden nur wenige seiner Gedichte wirklich populär und brachten es bis in die Schul- und Lehrbücher allgemeinbildender Schulen. Der lyrisch interessierten Welt allerdings bescherte er auf Dauer in seinem für heutige Verhältnisse eher kurzen Leben (4. Dezember 1875 bis 29. Dezember 1926) ein großes Vermächtnis an lyrischen Texten, die bis zum heutigen Tage nichts von ihrer Faszination, ihrer Kunstfertigkeit und oft auch Rätselhaftigkeit verloren haben. Seine Erzählungen und erst recht sein einziger, autobiographisch geprägter Roman („Die Aufzeichnungen des Malte Laurids Brigge“), zählen in noch stärkerem Maße nicht zur Populärliteratur heutiger Tage, bleiben ebenfalls der Beachtung und Wertschätzung ausgesprochener Rilke-Liebhaber und entsprechenden Fachkreisen vorbehalten.

„Die Aufzeichnungen des Malte Laurids Brigge“, die Rilke nicht als Roman, sondern als „Prosabuch“ bezeichnete, versammelt Texte von zum Teil verstörender Ausdeutung menschlicher Verhaltensweisen allgemein und bezogen auf den Hauptprotagonisten, eben jenen Malte Laurids Brigge. Zugegeben ein schwieriger Text, nicht immer sogleich verständlich, nicht einfach so herunterzulesen, was bei Rilke ohnehin nicht funktioniert; manche Sätze liest man mehrfach und versteht es trotzdem nicht, die in ihnen verborgene Botschaft des Autors zu entschlüsseln. Gleichwohl ist der im vertrauten Gelbton gehaltene Reclam-Band dem anspruchsvollen Leser unbedingt zur Lektüre zu empfehlen.

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Die Aufzeichnungen des Malte Laurids Brigge (Rainer Maria Rilke) Reclam, ISBN 978-3-15-009626-0



Textauszug:

…. Ganz erhalten ist in meinem Herzen, so schein es mir, nur jener Saal, in dem wir uns zum Mittagessen zu versammeln pflegten, jeden Abend um sieben Uhr. Ich habe diesen Raum niemals bei Tage gesehen, ich erinnere mich nicht einmal, ob er Fenster hatte und wohin sie aussahen; jedesmal, so oft die Familie eintrat, brannten die Kerzen in den schweren Armleuchtern, und man vergaß in einigen Minuten die Tageszeit und alles, was man draußen gesehen hatte. Dieser hohe, wie ich vermute, gewölbte Raum war stärker als alles; er saugte mit seiner dunkelnden Höhe, mit seinen niemals ganz aufgeklärten Ecken alle Bilder aus einem heraus, ohne einem einen bestimmten Ersatz dafür zu geben. Man saß da wie aufgelöst; völlig ohne Willen, ohne Besinnung, ohne Lust, ohne Abwehr. Man war wie eine leere Stelle. Ich erinnere mich, daß dieser vernichtende Zustand mir zuerst fast Übelkeit verursachte, eine Art Seekrankheit, die ich nur dadurch überwand, daß ich mein Bein ausstreckte, bis ich mit dem Fuß das Knie meines Vaters berührte, der mir gegenübersaß. Erst später fiel es mir auf, daß er dieses merkwürdige Benehmen zu begreifen oder doch zu dulden schien, obwohl zwischen uns ein fast kühles Verhältnis bestand, aus dem ein solches Gebaren nicht erklärlich war. Es war indessen jene leise Berührung, welche mir die Kraft gab, die langen Mahlzeiten auszuhalten. Und nach einigen Wochen krampfhaften Ertragens hatte ich, mit der fast unbegrenzten Anpassung des Kindes, mich so sehr an das Unheimliche jener Zusammenkünfte gewöhnt, daß es mich keine Anstrengungen mehr kostete, Zwei Stunden bei Tische zu sitzen; jetzt vergingen sie sogar verhältnismäßig schnell, weil ich mich damit beschäftigte, die Anwesenden zu beobachten.
Mein Großvater nannte es die Familie, und ich hörte auch die andern diese Bezeichnungen gebrauchen, die ganz willkürlich war ….




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