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Aus der Welt der Literatur



2018-04-06
Die Aufzeichnungen des Malte Laurids Brigge (Rainer Maria Rilke / Reclam / ISBN 978-3-15-009626-0 (2. Textauszug)

Rilke verdient es, an dieser Stelle, in der Rubrik „Aus der Welt der Literatur“, gleich zweimal nacheinander erwähnt zu werden, insbesondere mit seinem Roman „Die Aufzeichnungen des Malte Laurids Brigge“, an dem er jahrelang – immer wieder unterbrochen – schrieb und arbeitete. Dem geneigten Leser stellt sich nicht selten die Frage, welche Autorin, welcher Autor der Gegenwart einen solch gewaltigen, nachgerade ungeheuerlichen Text zustande bringen könnte. Niemand von ihnen, wagt der Verfasser dieser Zeilen zu behaupten. Das Argument, heute schreibe man anders, verfängt nicht. Genies wie Rilke brachten Zeitloses zu Papier, mit Bestandsgarantie für die literarische Ewigkeit.

Elke Heidenreich äußerte vor Jahren tatsächlich öffentlich, man müsse die Klassiker endlich mal umschreiben, textlich moderner gestalten, damit sie auch für die heutige Leserschaft interessant blieben. Was für ein törichter, welch ein dümmlicher Gedanke! Konsequenterweise hieße das dann wohl auch, Mozart, Brahms, Beethoven und Co. umzuschreiben. Eine schier unglaubliche Fehlleistung der selbst schriftstellernden Fernsehmoderatorin.

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Die Aufzeichnungen des Malte Laurids Brigge
Rainer Maria Rilke / Reclam / ISBN 978-3-15-009626-0





Textauszug 2:

….. Und über der angestrengten Beschäftigung mit dem, was sie sich vorgenommen haben, diese jungen Mädchen, kommen sie nicht mehr dazu, aufzusehen. Sie merken nicht, wie sie bei allem Zeichnen doch nichts tun, als das unabänderliche Leben in sich unterdrücken, das in diesen gewebten Bildern strahlend vor ihnen aufgeschlagen ist in seiner unendlichen Unsäglichkeit. Sie wollen es nicht glauben. Jetzt, da so vieles anders wird, wollen sie sich verändern. Sie sind ganz nahe daran, sich aufzugeben und so von sich zu denken, wie Männer etwa von ihnen reden könnten, wenn sie nicht da sind. Das scheint ihnen ihr Fortschritt. Sie sind fast schon überzeugt, daß man einen Genuß sucht und wieder einen und einen noch stärkeren Genuß: daß darin das Leben besteht, wenn man es nicht auf eine albere Art verlieren will. Sie haben schon angefangen, sich umzusehen, zu suchen; sie, deren Stärke immer darin bestanden hat, gefunden zu werden.

Das kommt, glaube ich, weil sie müde sind. Sie haben Jahrhunderte lang die ganze Liebe geleistet, sie haben immer den vollen Dialog gespielt, beide Teile. Denn der Mann hat nur nachgesprochen und schlecht. Und hat ihnen das Erlernen schwer gemacht mit seiner Zerstreutheit, mit seiner Nachlässigkeit, mit seiner Eifersucht, die auch eine Art Nachlässigkeit war. Und sie haben trotzdem ausgeharrt Tag und Nacht und haben zugenommen an Liebe und Elend. Und aus ihnen sind, unter dem Druck endloser Nöte, die gewaltigen Liebenden hervorgegangen, die, während sie ihn riefen, den Mann überstanden; die über ihn hinauswuchsen, wenn er nicht wiederkam, wie Gaspara Stampa oder wie die Portugiesin, die nicht abließen, bis ihre Qual umschlug in eine herbe, eisige Herrlichkeit, die nicht mehr zu halten war.

Wir wissen von der und der, weil Briefe da sind, die wie durch ein Wunder sich erhielten, oder Bücher mit anklagenden oder klagenden Gedichten, oder Bilder, die uns anschauen in einer Galerie durch ein Weinen durch, das dem Maler gelang, weil er nicht wußte, was es war. Aber es sind ihrer zahllos mehr gewesen; solche, die ihre Briefe verbrannt haben, und andere, die keine Kraft mehr hatten, sie zu schreiben. Greisinnen, die verhärtet waren, mit einem Kern von Köstlichkeit in sich, den sie verbargen. Formlose, stark gewordene Frauen, die, stark geworden aus Erschöpfung, sich ihren Männern ähnlich werden ließen und die doch innen ganz anders waren, dort, wo ihre Liebe gearbeitet hatte, im Dunkel. Gebärende, die nie gebären wollten, und wenn sie endlich starben an der achten Geburt, so hatten sie die Gesten und das Leichte von Mädchen, die sich auf die Liebe freuen. Und die, die blieben neben Tobenden und Trinkern, weil sie das Mittel gefunden hatten, in sich so weit von ihnen zu sein wie nirgend sonst; und kamen sie unter die Leute, so konnten sie´s nicht verhalten und schimmerten, als gingen sie immer mit Seligen um. Wer kann sagen, wieviele es waren und welche. Es ist, als hätten sie im voraus die Worte vernichtet, mit denen man sie fassen könnte.





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