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Aus der Welt der Literatur



2020-11-09
„Lord Jim“ (Originaltitel: „Lord Jim. A Tale“ (Joseph Conrad) S. Fischer / ISBN 978-3-596-90016-4

Der Roman „Lord Jim“ zählt neben „Herz der Finsternis“ sicher zu den populärsten Texten Joseph Conrads. Ein Buch der Weltliteratur. Das Meer und die Menschen, die von und mit ihm leben, bilden wiederum den Hintergrund dieses Klassikers. Jim, dessen weiterer Name nahezu in Vergessenheit gerät und den Zusatz „Lord“ erst im Laufe seines späteren Lebens erhält, trifft als Offizier an Bord der »Patna« eine folgenschwere, wie sich zeigen wird, falsche Entscheidung, die sein Leben fortan unheilvoll begleiten und beeinflussen wird und deren Konsequenzen er nicht entkommen kann.

Joseph Conrad (geboren am 3. Dezember 1857 als Józef Teodor Konrad Nalecz Korzeniowski im damals russisch besetzten Teil der polnischen Ukraine), gilt nach wie vor als einer der bedeutendsten Autoren der englischen Sprache. Als Siebenjähriger verlor er die Mutter, mit elf Jahren den Vater, dessen Betätigung im antirussischen Widerstand der Familie Repressalien und zeitweilige Verbannung eintrugen. Der Bruder der Mutter übernahm fortan die Erziehung des verwaisten Jungen, die sich durch das aufbrausende, exzentrische, ruhelose Wesen des Heranwachsenden als nicht unproblematisch gestaltete. Früh schon zog es ihn ans Meer, Schiffe faszinierten ihn zeitlebens. Als 17jähriger verließ er seine Heimat und ging nach Marseille, brachte sich mit unterschiedlichsten Beschäftigungen durchs Leben, befuhr schließlich sechzehn Jahre lang auf zahlreichen Schiffen die Meere, am Anfang als Passagier, schließlich als Seemann. Auch um möglichen Nachstellungen des zaristischen Rußlands zu entgehen, erwarb er 1886 die britische Staatsbürgerschaft und nannte sich ab diesem Zeitpunkt Joseph Conrad.

Seine seemännischen Erlebnisse prägten sein Leben auf Dauer, insbesondere die unmittelbare Begegnung mit den Schrecknissen des Kolonialismus und dessen Verbrechen an Afrikas Ureinwohnern, die er bei Reisen in den geknechteten Kontinent mitansehen mußte.
Trotz seines unsteten Lebens las Conrad viel, auch angeregt durch den literarisch ambitionierten Vater, der Gedichte und Dramen verfaßte und sich als Übersetzer fremdsprachiger Autoren betätigte. Um 1890 begann Conrad mit dem eigenen Schreiben, und im Laufe seines weiteren Lebens verfaßte er zahlreiche Romane und Erzählungen, von denen einige weltbekannt wurden und es bis zur Verfilmung und auf die Bühne schafften.
Conrad starb am 3. August 1924 im Arbeitszimmer seines Hauses in Kent. Auf dem Friedhof in Canterbury liegt er an der Seite seiner Frau begraben.

Unabhängig vom Inhalt des 1900 in London erschienenen Romanes „Lord Jim. A Tale“ offenbart sich in der Art und Weise seiner literarischen Umsetzung die außerordentliche Erzählkunst Conrads, die nur wenigen, den wirklich großen Romanciers, gegeben ist.
Auch nach über hundert Jahren hat der Roman nichts von seiner Größe, von seiner Sprachgewalt eingebüßt.

An anderer Stelle schrieb Conrad Gedanken nieder, die auf vieles, was das Leben der Menschen berührt, zutreffen mögen
„Man sollte auch dem letztlich Unerklärlichen sein Recht einräumen, wenn man das Verhalten eines Menschen in einer Welt beurteilt, in der es keine letztgültigen Erklärungen gibt.“


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„Lord Jim“ (Originaltitel: „Lord Jim. A Tale“ (Joseph Conrad)
S. Fischer-Verlag GmbH
ISBN 978-3-596-95016-4
Taschenbuch € 14,99 / 496 Seiten



Textauszug:

… Die Nebelschleier schlossen sich wieder. Ich weiß nicht, wie alt ich ihm erschien – und wie weise. Sicherlich nicht halb so alt, wie ich mir damals vorkam; nicht halb so unnütz weise, wie ich wußte, daß ich war. Sicher öffnen sich in keinem anderen Beruf als dem der Seefahrer die Herzen jener, die schon ausgefahren sind auf Gedeih oder Verderb, so sehr dem Jüngling, der am Rande steht und mit glänzenden Augen auf das Glitzern der weiten Fläche sieht, das nur ein Widerschein seiner eigenen feurigen Blicke ist.

Es herrschte etwas wunderbar Vages in den Erwartungen, die einen jeden von uns zur See trieben, eine so glorreiche Unbestimmtheit, ein so herrlicher Hunger nach Abenteuern, die ihr eigener und einziger Lohn bleiben! Denn was wir erhalten – nun, wir wollen nicht davon sprechen; aber wer von uns könnte ein Lächeln unterdrücken? In keiner anderen Lebensweise irrt die Illusion weiter von der Wirklichkeit ab – in keiner andern ist der Anfang so ganz und gar Illusion – ist die Ernüchterung geschwinder – die Unterjochung vollständiger. Begannen wir nicht alle mit demselben Hunger, endeten mit demselben Wissen, trugen die Erinnerung an dasselbe geliebte Blendwerk durch gemeine Tage des Fluchs?

Was Wunder, daß sich das Band, wenn dann ein schwerer Schlag niedersaust, als fest erweist; daß neben der Verbundenheit durch den Beruf noch die Kraft eines umfassenden Gefühls empfunden wird – jenes Gefühls, welches einen Mann an ein Kind bindet. Da stand er vor mir im Vertrauen darauf, daß Alter und Weisheit eine Arznei gegen den Schmerz der Wahrheit finden würden, und gab sich mir als ein junger Bursche zu erkennen, der in der Klemme sitzt, und zwar in einer verteufelten Klemme, eine Klemme solcherart, daß Graubärte feierlich den Kopf schütteln würden, während sie heimlich ein Lächeln verbergen.

Und er hatte über den Tod nachgedacht – hol ihn der Henker. Er hatte sich ausgerechnet den Tod für seine Betrachtung ausgesucht, weil er glaubte, sein Leben gerettet zu haben, während doch dessen ganze Herrlichkeit mit dem Schiff in der Nacht dahingegangen war. Was ist natürlicher!

Wahrhaftig, es war tragisch genug und auch komisch genug, um laut nach Mitleid zu schreien – und inwiefern war ich besser als der Rest von uns, daß ich ihm mein Erbarmen hätte versagen sollen? Und schon während ich ihn ansah, schlossen sich die Nebelschleier, und seine Stimme sprach: „Ich war so verlassen, wissen Sie. Es war genau das, wovon man nicht erwartet, daß es einem zustößt. Es war, zum Beispiel, nicht wie ein Kampf.“ …




„ …. Ich vermied, ihn anzublicken, aber ich glaube, ich hörte einen kurzen Seufzer; wir gingen schweigend ein paar Schritte weiter. „Auf Ehre und Gewissen“, begann er wieder, „wenn etwas Derartiges überhaupt vergessen werden kann, dann habe bestimmt ich das Anrecht, darüber hinwegzukommen, meine ich. Fragen Sie hier, wen Sie wollen“ … seine Stimme veränderte sich. „Ist es nicht sonderbar“, fuhr er in sanftem, fast wehmütigem Ton fort, „daß es all diese Leute, diese Leute, die alles für mich täten, niemals einsehen würden? Niemals! Wenn Sie mir nicht glauben, kann ich keine Zeugen aufrufen. Es scheint hart – irgendwie. Ich bin töricht, nicht wahr! Was kann ich mir noch mehr wünschen? Wenn Sie die Leute hier fragen, wer tapfer ist – wer aufrichtig ist – wer gerecht ist – wem sie ihr Leben anvertrauen würden? – wird man Ihnen sagen: Tuan Jim. Und doch werden sie niemals die Wahrheit, die wirkliche Wahrheit erfahren …“

Das sagte er am letzten Tag, den ich mit ihm verbrachte, zu mir. Kein Laut kam über meine Lippen: ich fühlte, er werde noch mehr sagen – und doch dem Kern der Sache um nichts näher kommen. Die Sonne, deren geballter Schein die Erde zu einem rastlosen Staubkörnchen zusammenschrumpfen läßt, war hinter dem Wald untergegangen, und das ausgegossene Licht des opalenen Himmels breitete über ein Welt ohne Schatten und ohne Glanz den Zauber einer stillen und nachdenklichen Größe. Ich weiß nicht, warum ich, indem ich ihm zuhörte, so deutlich das Dunkelwerden des Flusses und des Himmels wahrnahm; das unwiderstehliche, langsam Werk der Nacht, die sich schweigend auf alle sichtbaren Formen niederläßt, die Konturen verwischt, die Gestalten tiefer und tiefer unter sich begräbt, wie stetig niederrieselnder, ungreibarer, schwarzer Staub. …














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