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Aus der Welt der Literatur



2004-01-03
Rosenhain (Claire Beyer; Frankfurter Verlagsanstalt)

Nach dem erfolgreichen Roman "Rauken" nun ein eindrucksvoller Erzählband der Autorin. Am Anfang stehen die mitunter an den Rand des Sonderlichen, Abstrusen reichenden Geschichten für sich alleine, bis sie sich am Ende in wundersamer, denkwürdiger Weise miteinander verweben. Den Stakkato-Satzstil so mancher gefeierter Gegenwartsliteratur sucht man in diesem Buch vergeblich.

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Textauszug:

An der Gruppentherapie brauchte ich ab jetzt nicht mehr teilzunehmen. Ich tat es freiwillig, weil mich die Vorgehensweise der Therapeuten faszinierte. So wenig sie auch erfuhren, sie interpretierten den spärlichen Inhalt der Aussagen auf unnachahmliche Weise. Und nicht nur das, sie bezogen die Körperhaltung des Einzelnen mit ein, ebenso wie das Verhalten der Insassen untereinander. Verborgenes wurde wie eine vergessene Münze aus der Hosentasche hervorgeholt, voller Erstaunen betrachtet und auf seinen Wert geprüft. Manches konnte in Umlauf gebracht werden, anderes wurde wieder zurückgesteckt. Der enge Kontakt der Patienten führte oft zu Auseinandersetzungen. Damit gab es kaum einen Unterschied zum Draußen, nur, daß in der Klinik Streitigkeiten toleriert wurden. Eine Freundschaft, wie sie sich zwischen dem Russen, Eule und mir angebahnt hatte, war selten und unterstrich die Tatsache, daß ich nicht hierher gehörte. Jeweils gegen Ende der Therapiesitzungen wurden Fall-Geschichten erzählt. So nannten sie Berichte über Patienten oder andere Begebenheiten, die mit der Klinik zu tun hatten. Einer dieser Fälle, oder sollte ich sie besser Legenden nennen, ist mir in Erinnerung geblieben: Ein Briefträger, der im Laufe seines Berufslebens unzählige Briefe ausgetragen hatte, erhielt eines Tages ein mit schön geschwungener Handschrift beschriebenes, an ihn adressiertes Kuvert. Er, der weder Familie noch Freunde hatte, brach darüber zusammen und wurde in diese Klinik gebracht. Den Brief behielt er in seiner Faust, hat ihn nie geöffnet. Als er starb, begrub man ihn damit.
An einem anderen Tag erfuhr ich, der Russe war Österreicher und hatte Musik studiert. Sein traumatisches Erlebnis war, sich beim 2. Satz eines Rachmaninow-Konzertes verspielt zu haben, seither saß er hier ein. Ich hielt auch dies für eine Legende, die der Russe selbst verbreitet hatte. Aber es ging ja auch darum, was die Therapeuten glaubten. 'Die, die den Sonnnenschein überfahren haben', hieß es einmal. Das also dachten sie über uns.
Die wenigen freien Stunden verbrachte ich mit meinen Freunden am Fenster. Wir sahen hinaus zum Himmel, weil Eule so gerne geflogen wäre, und nach unten auf das Wasser zu den Libellen und manchmal auf den Russen, der in sein Weinglas sah.



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