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Aus der Welt der Literatur



2004-04-03
Flutzeit (Anne Provoost; Verlag

Der Auserwählte läßt auf Geheiß ein riesiges Schiff bauen, eine Arche, auf ein trockenes Stück Erde gestellt, ohne je, so scheint es, seiner Bestimmung zugeführt werden zu können, denn weder Fluß noch Meer sind bis zum Horizont zu erkennen. Die belgische Autorin, noch relativ jung an Jahren, wagte sich mutig an ein wahrlich schweres Thema heran, erzählt in beeindruckender Manier von den Ereignissen um den gewaltigsten, folgenreichsten Exodus in der Geschichte des Menschengeschlechts, wie er sich zugetragen haben könnte....

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Textauszug:

Ich sah, wie mein Vater aus seinem Boot in den Morast sprang und zu dem Loch im Rumpf ging. Ich schrie, doch er hörte mich nicht. Um uns herum pflügten Dromedare, Kamele, Esel und Hirsche wie toll durch den Schlamm. Sie schlugen mit den Köpfen, um in dem Morast vorwärtszukommen. Für den Bruchteil eines Atemzugs sah ich die weiten Nasenlöcher und die feuchten Augen, die dunkelgrün glänzten. Es gab keinen anderen Ort mehr als die Arche, jetzt, da das Ende der Welt gekommen war, da die Wut des Gottes des Bauherrn unumkehrbar war. Große Erdbrocken brachen aus dem Hügelrand, Felsblöcke stürzten herab, von Menschenhand errichtete Steinsäulen fielen der Länge nach um, Sträucher wurden weggespült. Als wir die Landungsbrücke erreichten, ließ mich Ham los, riß sich den Mantel vom Leib und stülpte ihn mir über den Kopf. Noch immr standen die Krieger auf der Landungsbrücke. Wenn es einem Rrattika noch gelang, sich aus dem Schlamm zu erheben und die Brücke zu finden, wurde er sofort von ihren Speeren und Peitschen zurückgedrängt. Sie verabreichten Schläge, die man nur austeilen kann, wenn man sich vollkommen überlegen fühlt. Ham hielten sie jedoch nicht zurück. Ich war so schlapp in seinen Armen, daß ich wie ein totes Tier oder ein Stoffballen ausgesehen haben muß.

Der Eingang der Arche war ein klaffendes Loch, in dem weder eine Lampe noch eine Fackel brannte. Ein durchdringender Geruch nach Exkrementen schlug uns entgegen, noch übertönt von dem Angstgeruch des Stinktiers. Hier spürte man den stechenden Regen nicht mehr, doch die Geräusche waren abschreckend und auf ihre Art schmerzhaft. Ich hörte Hufgetrappel und Geschrei wie von Kindern, das von Katzen, Affen oder Vögeln stammen mußte. Ich hörte das Spucken von Eidechsen, das Greinen von Pelikanen, das Heulen von Füchsen und Dingos. Und in der Ferne erklang Sems Stimme. Er versuchte, die Tiere zu beruhigen, schaffte es aber nicht, Herr seiner eigenen Erschütterung zu werden. Ham bewegte sich schnell, jemand rief seinen Namen, doch er drehte sich nicht um. Weit hinten auf der Galerie befreite er mein Gesicht, doch im Schiff war es so dunkel, daß ich noch immer nichts sah. Er stieg eine Treppe oder Leiter hoch; ich fühlte, wie er die Beine anhob und vor Anstrengung stöhnte. Dann ging es durch lange Gänge. Er hätte mich auf den Boden stellen und mir befehlen können zu laufen, doch das tat er nicht, er hielt mich wie eine Kostbarkeit fest.



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