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Aus der Welt der Literatur



2004-08-16
Heimatmuseum (Siegfried Lenz / Deutscher Taschenbuch Verlag / ISBN 3-423-01704-X)

Um Lenz ist es – daran ändert auch der vor geraumer Zeit erschienene Roman „Fundbüro“ nichts – ruhiger geworden. Gleichwohl zählt er nach wie vor zu den herausragenden Autoren der Gegenwart; unverdienterweise findet er jedoch nicht die Aufmerksamkeit wie beispielsweise Günter Grass. Lenz ist ein großer Erzähler, der ohne Pathos und unaufdringlich die Sprache, seine Sprache, einsetzt und Geschehnisse und Handelnde in seinen Geschichten mit unglaublichem Detailreichtum – ohne sich je zu verlieren – vor dem Leser ausbreitet. Er muß keine Gefühle, keine Empfindungen beschreiben; seine Worte, seine Texte tragen diese als stets gegenwärtiges Selbstverständnis in sich. In seinem Roman „Heimatmuseum“ schreibt Lenz über seine Heimat Masuren, die von der Gewalt zweier Weltkriege ereilt wird und die Menschen mit Elend und Verhängnis ohnegleichen heimsucht.

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Textauszug:

In seinem altersschwachen Kahn, unterm Burbeln des gestauten Wassers, erfuhr ich also, daß dort, wo Sonja Turks Haus stand, früher das verrufene Haus von Bianka gestanden hatte, die sich mehr als vom Weben und Knüpfen vom Besprechen ernährte, vom Besprechen kranker Tiere, denen kein Veterinär mehr helfen konnte.
Einmal im Jahr war Biankas Haus der Treffpunkt der Zigeuner, die ihre Rumpelwagen auf der Trockenwiese abstellten und drei Tage lang ein Fest feierten, dessen Anlaß nur sie selbst kannten, ein Fest mit sieben Feuern und Musik und unzähligen in Lehm gebackenen Igeln. Sonja Turk soll mit den Zigeunern gekommen sein, in einem Herbst, und sie soll wie in Trance auf einem Rumpelwagen gesessen haben, ein dreizehnjähriges Mädchen, das selbst keine Zigeunerin war. Wie im Trance saß sie auch vor dem Feuer, tanzte, sie soll nicht ein einziges Wort gesagt haben, nicht einmal, als Bianka ihr eine Kette schenkte, eine Bernsteinkette. Bianka allein wußte, warum Sonja Turk fehlte, als die Zigeuner wieder aufbrachen, sie saß vor ihrem Haus und beobachtete die Suche, an der sich außer dem musikliebenden Vizekönig der halbe Stamm beteiligte. Die Klagerufe des jungen Vizekönigs machte sie wankelmütig, deshalb ging sie ins Haus, schloß die Doppelfenster und gab Sonja Turk, die sich tief im Schilf versteckt hatte, den Befehl, daß Nest eines Wasservogels auszuheben und es sich über den Kopf zu stülpen: so blieb das Mädchen unentdeckt.

Nachdem die Zigeuner weitergezogen waren – nach Narbonne und Andalusien -, holte Bianka, einfach weil sie Gefallen an ihr fand, Sonja Turk ins Haus, schenkte ihr ein Kopfkissen, das mit den Daunen junger Wildenten gefüllt war, schenkte ihr ein Kleid mit seltener Fischschuppenstickerei – Rankenwerk auf schwarzem Samtgrund – und ließ sie solange den Sud von Innereien trinken, bis das Mädchen aus der Apathie erwachte, die den Trancezustand ausgelöst hatte. Von Bianka lernte Sonja Turk Weben und Knüpfen, von ihr lernte sie Kreuz- und Perlenstickerei. Wenn die Frau auf abgelegene Gehöfte gerufen wurde, um kranke Pferde und Kühe zu besprechen, nahm sie das Mädchen als Gehilfin mit, das bald vertraut wurde mit den Konstellationen der Karten und mit der Methode, dringend benötigte Zeichen aus Asche und Urin herauszulesen. Gemeinsam sollen sie Vogelfedern gesucht und Tollkirschen geerntet haben; man sah sie nur untergehakt, in herausfordernder Fröhlichkeit; es hieß, Sonja Turk wünschte sich Bianka als Mutter.

Wenn im Herbst die Zigeuner kamen, verschwand Sonja Turk für die Dauer des Festes; Bianka tröstete den jungen Vizekönig und goß ihm Getränke gegen seine Schlaflosigkeit auf, und bevor sie sich, Wange an Wange, über die erhitzte Glaskugel beugten, in der Entschwundenes sichtbar wurde, stellte Bianka heimlich zwei Spiegel auf, die der Kugel die Kraft nahmen. Kaum waren ihre Rumpelwagen in die Grenzwälder eingetaucht, erschien Sonja Turk wieder, über beiden Schultern Schnüre mit getrockneten Pilzen; in ihrer Kleidung hing der schwache Modergeruch eines hohlen Baustamms. Ihr Versteck soll sich in der Nachbarschaft eines wilden Bienenvolkes befunden haben; nicht ein einziges Mal wurde sie gestochen.



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