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Aus der Welt der Literatur



2017-01-07
Baum der Nacht (Truman Capote / Kein & Aber /ISBN 978-3-0369-5920-7)

Truman Capote (* 1924 in New Orleans) war zeitlebens eine schillernde Person. Nach früher Scheidung der Eltern nahm er den Namen des Stiefvaters an: Capote. Die Familie zog nach New York, wo er mit dem Theater und der Kunstwelt, auch der sogenannten Upperclass, in Berührung kam. Schon bald entdeckte er seine Lust am Schreiben, Erfolge stellten sich rasch ein. Mit Erzählungen begann er, und die erste davon, „Miriam“ (1945), schlug sogleich gut ein, wurde hoch gelobt und prämiert. Auch sein erster Roman (1948), „Other Voices, Other Rooms“ (deutscher Titel: „Andere Stimmen, andere Räume“), errang sofort großes Aufsehen. Weitere Werke folgten, wie z. B. 1951„The Grass Harp“ (deutscher Titel: „Die Grasharfe“), 1958 „Breakfast at Tiffany´s“ (deutscher Titel: „Frühstück bei Tiffany“), allesamt hervorragend benotet und später auch verfilmt. Dann – ein sein Leben wohl entscheidend veränderndes Ereignis – stieß er auf einen aufsehenerregenden Kriminalfall, bei dem eine komplette Farmerfamilie auf ihrem einsam gelegenen Gehöft ermordet wurden; jahrelang recherchierte er minutiös die Fakten bis hin zu langandauernden Besuchen der zum Tode verurteilten zwei jungen Männer in ihren Zellen. In seiner Gefolgschaft reiste Harper Lee mit, selbst Autorin und mit Capote eng liiert; ihr Roman „To Kill a Mockingbird“ (deutscher Titel „Wer die Nachtigall stört“) brachte es zu Weltruhm; die Stimmen wollen indes nicht verstummen, daß Capote einen großen, wenn nicht den größten Anteil am Zustandekommen dieses Romans hat, der 1960 erschien.

Neben seinen Romanen schrieb Capote auch zahlreiche bemerkenswerte Erzählungen, die gleichfalls von der Fachwelt mit großem Beifall bedacht wurden. Nahezu alle Geschichten, die er niederschrieb, sind von geheimnisvollen, teilweise skurrilen, sonderbaren, irrlichternden Protagonisten und Vorkommnissen geprägt, lassen den Leser bisweilen ratlos, doch nie teilnahmslos zurück, so wie auch bei der hier vorgestellten Begebenheit.

Capotes Leben war wohl alles in allem kein Glück beschieden, nahm auch kein gutes Ende. Er wurde alkoholabhängig und mit Drogen in Verbindung gebracht. Zusehends vereinsamte er, verlor Freunde und Bekannte und starb am 25. August 1984 in Los Angeles durch eigene Hand.


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Der auszugsweise vorgestellte Text entstammt der Erzählung „Kindergeburtstag“, die dem Band „Baum der Nacht“ entnommen wurde, herausgegeben 2014 vom Verlag Kein & Aber AG, Zürich und Berlin (ISBN 978-3-0369-5920-7); in diesem Buch sind sämtliche Erzählungen Capotes versammelt.





….Am selben Tag ging Tante El hinaus, um ihre Rosen zu gießen, mußte jedoch feststellen, daß sie verschwunden waren. Es waren ganz besondere Rosen, nämlich die, die sie auf die Blumenausstellung in Mobile hatte schicken wollen, und so wurde sie natürlich leicht hysterisch. Sie rief den Sheriff an und sagte, hör` zu, Sheriff, du kommst jetzt auf der Stelle her. Man hat mir meine sämtlichen Lady Annes geklaut, denen ich mich seit dem Frühjahr mit Leib und Seele gewidmet habe.

Als das Auto des Sheriffs vor unserem Haus anhielt, traten alle Nachbarn in der Straße auf ihre Veranda heraus, und Mrs. Sawyer, eine dicke Schicht weiße Coldcream im Gesicht, kam über die Straße gelaufen. Ach was, sagte sie, sehr enttäuscht, als sie erfuhr, daß niemand ermordet worden war, ach was, kein Mensch hat hier Rosen gestohlen. Euer Billy Bob hat die Rosen rübergebracht und für die kleine Bobbit abgegeben.

Tante El sagte kein Wort. Sie ging nur hinüber zum Pfirsichbaum und schnitt sich eine Rute ab. He, Billy Bob rufend, ging sie zielstrebig die Straße entlang, und dann fand sie ihn drunten in Speedys Autowerkstatt, wo er und Preacher zuschauten, wie Speedy einen Motor auseinandernahm. Sie packte ihn einfach bei den Haaren und schleifte ihn, auf ihn eindreschend, heim. Aber sie konnte ihn nicht dazu bringen zu sagen, daß es ihm leidtue, und sie konnte ihn nicht zum Weinen bringen. Und als sie mit ihm fertig war, rannte er in den Garten hinter dem Haus und klettert in den Wipfel des hohen Pekannußbaumes und schwor, daß er nie wieder herunterkommen werde. Daraufhin stellte sich sein Daddy ans Fenster und rief ihm zu: Junge, wir sind dir nicht böse, also komm´ runter, das Abendessen ist fertig. Aber Billy Bob rührte sich nicht vom Fleck.

Tante El ging hinaus und lehnte sich an den Baum. Sie sprach mit einer Stimme, so sanft wie das schwindende Licht. Es tut mir leid, Junge, sagte sie, ich wollte dich nicht derart verprügeln. Ich habe ein schönes Abendessen gemacht, Junge, Kartoffelsalat und gekochten Schinken und gefüllte Eier. Hau` ab, sagte Billy Bob, ich will kein Abendessen, und ich hasse dich wie die Pest. Sein Daddy sagte, so dürfe er nicht mit seiner Mutter sprechen, und sie fing an zu weinen. Sie stand da unter dem Baum und weinte, hob den Rocksaum hoch, um sich die Augen abzuwischen.Ich hasse dich nicht, Junge … Wenn ich dich nicht lieben würde, hätte ich dich nicht verprügelt.

Die Blätter des Pekannußbaumes begannen zu rascheln; Billy Bob kam langsam heruntergerutscht, und Tante El zog ihn an sich und fuhr ihm mit den Fingern durchs Haar. Ach, Ma, sagte er, ach Ma.





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